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Ein Workshop in den virtuellen Alpen

Virtuelle Arbeitswelten sind schon seit längerem eine sinnvolle Alternative zu Meetings, Kongressen und Dienstreisen. Die Corona-Krise hat der Idee zusätzlichen Auftrieb verschafft. Zu den Vorreitern in Deutschland zählt XR HUB Bavaria. Jetzt hat das Team aus München eine Auswahl an virtuellen Locations zum Test für alle geöffnet.

Wo soll der nächste Kreativ-Workshop stattfinden? Vielleicht in einer chilligen Bar, designt in poppigen Hippie-Farben? Die Bilanz-Pressekonferenz in einer toskanischen Renaissance-Villa mit zypressengesäumtem Garten? Die Vernissage in einer experimentellen Übersetzung von Goyas Radierung „Der Schlaf der Vernunft bringt Monster hervor“? Oder vielleicht doch lieber in den Poren eines riesigen rosafarbenen Meeresschwamms? Und all dies auch noch ohne lange und beschwerliche An- und Abreise mit gigantischem ökologischem Fußabdruck, ganz bequem vom Home-Office aus.

Für die Menschen hinter dem Namen XR HUB Bavaria zählt die Arbeit an solchen exotisch anmutenden Locations fast schon zur täglichen Routine. Das Münchner Team der vom Freistaat geförderten Initiative zur Stärkung des Medien- und Wirtschaftsstandorts Bayern (mit weiteren Standorten in Nürnberg und Würzburg) arbeitet mit Hochdruck an der Entwicklung virtueller Arbeitswelten, die in punkto Erlebnis und Zusammenarbeit weit über das nüchterne Kachelerlebnis von Zoom und ähnlichen Tools für Video-Konferenzen hinausgehen.

XR HUB Bavaria ist Partner des auf neue Lösungen für die Zeit nach der Corona-Krise fokussierten Creative Labs COVID-19 des Kompetenzzentrums Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes. Dazu passt auch ganz gut, dass das Hub kürzlich einen Ideenwettbewerb zu open-source-basierten virtuellen Arbeitsräumen und -landschaften  ausgeschrieben hat. Die Aufforderung: „Traumwelten zu kreieren und die Grenze des Gewohnten zu durchbrechen“. Die acht Gewinner-Entwürfe wurden mittlerweile frei zugänglich auf der XR-Spaces-Plattform zum Ausprobieren aufgestellt.

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Wer sich die Zeit für eine Entdeckungsreise nimmt, mag so bald nicht mehr aus der Virtualität auftauchen. „Man ist global unterwegs, Ländergrenzen werden obsolet“, beschreibt Silke Schmidt, Leiterin von XR HUB Bavaria Munich, die Faszination von Meetings im Cyberspace. Man kann sich mit Kolleg*innen, Geschäftspartner*innen oder Konferenzteilnehmer*innen aus der ganzen Welt „zeitgleich in einem virtuellen Raum treffen, den man sich vorher ausgesucht hat, wie früher um ein Lagerfeuer herum“, erklärt sie. „Und man hat dabei das Gefühl, tatsächlich mit diesen Leuten an dem betreffenden Ort zu sein – das ist etwas völlig anderes als eine Zoom-Konferenz, wo jeder hinter seiner Videokachel klebt.“

Die Arbeitsumgebungen des Ideenwettbewerbs von XR HUB wurden allesamt in Mozilla Hubs eingerichtet, einer der gängigsten Plattform für VR-Treffen, die komplett im Browser läuft. Mozilla Hubs bietet den Vorteil, dass der Zugang nicht nur mit VR-Equipment möglich ist, sondern auch unkompliziert via PC, Tablet oder Smartphone. „Diese leichte Zugänglichkeit über alle Devices ist uns wichtig, da eben noch nicht jeder eine VR Brille zu Hause hat – auch wenn das Erlebnis mit VR-Brille in 3D nochmal ungleich großartiger ist“, so Silke Schmidt.

 

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Cyan Planet

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Cyan Planet

Meetings sind nur der Anfang

Zwar stolpern die meisten, die zum ersten Mal virtuelle Locations testen, anfangs noch recht unbeholfen durch die Räume und Landschaften. Aber die wenigen notwendigen Tastaturbefehle lernt jeder erstaunlich schnell: wie man miteinander kommuniziert, sich mit ein paar Klicks zu einer Gruppe anderer Avatare gesellt, die gerade in einer Ecke zusammenstehen; wie man sich wieder entfernt (wobei dann die Lautstärke des Gesprächs der Gruppe abnimmt) und mit einem Avatar-Kolleg*innen zum vertraulichen Gespräch an die Kaffeebar zurückzieht. Fast alles, was erprobte Meeting-Teilnehmer*innen aus der Welt des physischen Beisammenseins kennen, Videovorführungen etwa oder PowerPoint-Präsentationen, ist auch in digitalen Arbeitswelten problemlos möglich, und noch viel mehr: 3D Objekte können während eines Meetings in den Raum geholt werden, die Teilnehmer*innen verteilen sich um das Objekt herum und können es von allen Seiten betrachten. Begehbare 360 Grad Videos werden zum Erlebnis. Und in Sekundenschnelle lassen sich auch Expert*innen zu einer Podiumsdiskussion herbeiholen. Im Flieger sitzen die nicht so schnell.

Die bisherigen Feedbackrunden verliefen vielversprechend. „Es hat einen Riesenspaß gemacht, unsere Workshop Gruppe in die ‚Alpen‘ zu entführen“, vermeldete ein Prototypen-Tester an XR HUB Bavaria. Die Einsatzmöglichkeiten virtueller Locations seien fast unerschöpflich, so Silke Schmidt, auch jenseits von Business-Meetings. Egal ob Präsentationen neuer Fashion-Kollektionen, Kunstgalerien, Bühnenbilder für Theater oder Rathaussäle, in denen ein Bürgermeister-Avatar einer Gruppe von Schüler*innen-Avataren Wissen über Kommunalpolitik vermittelt – vieles lasse sich ins Cyberspace verlegen.

Zu den bislang konsequentesten Pionier*innen der kommerziellen Nutzung virtueller Arbeitsumgebungen zählt die US-Immobilienmaklerfirma Exp Realty. Sie verzichtet auf teure Bürogebäude aus Beton und Glas und hat ihre Unternehmenszentrale komplett in die Cloud ausgelagert. Dies hat dem Unternehmen nach eigenen Angaben schon vor Corona eine Wachstumsgeschwindigkeit ermöglicht, die mit physischen Standorten niemals auch nur annähernd zu verwirklichen gewesen wäre.

 

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Cyan Planet

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Cyan Planet

Das Öko-Argument zog nicht richtig

Die ersten Experimente mit virtuellen Arbeitsumgebungen liegen bereits einige Jahre zurück. Anfangs stand das Argument im Vordergrund, dass Flüge und Fahrten zu Kongressen und Meetings die Umwelt unnötig belasten. Doch solange schrankenloses Reisen noch problemlos möglich war und die Budgets bewilligt wurden, fehlte der Idee virtueller Arbeitsräume die Wucht. Der Durchbruch blieb aus.

Ausgerechnet die Corona-Krise, erzählt Silke Schmidt, hat das Konzept jetzt auf eine höhere Umlaufbahn katapultiert. Durch Corona wurde plötzlich ein riesiger Markt für Treffen ohne physische Präsenz geschaffen; das Wort „Reisefreiheit“ bekommt eine neue Bedeutung. Die hippe Idee virtueller Arbeitswelten verwandelte sich quasi über Nacht zu einem Geschäftsmodell. Eine Rückkehr zum normalen Kongress-, Meeting-, Messe- und Ausstellungsbusiness der Vor-Corona-Zeit wird es vermutlich auf längere Sicht nicht geben. „Das gesamte Geschäftsmodell von Konferenzen“, urteilt der amerikanische VR-Pionier Charlie Fink, „wurde entworfen für eine Welt, die schlicht nicht mehr existiert.“ Auch bei den Dienstreisen scheint der durch Corona ausgelöste Trend unumkehrbar. Eine Ende Juli veröffentlichte branchenübergreifende dpa-Umfrage unter deutschen Konzernen ergab, dass die Unternehmen viele Treffen auch in Zukunft virtuell abhalten wollen. „Die Pandemie hat als Katalysator fungiert und der virtuellen Zusammenarbeit einen weiteren Schub gegeben“, so eine Sprecherin der Deutschen Post.

„Das gesamte Geschäftsmodell von Konferenzen wurde entworfen für eine Welt, die schlicht nicht mehr existiert.“

Charlie Fink, VR-Pionier
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Goya von Künstler Flavio Cury

Initiativen wie diese könnten ein wichtiges – und dringend benötigtes – Signal in Richtung der Kultur- und Kreativwirtschaft aussenden. Ein Großteil der Branche ist nach wie vor stark von den Auswirkungen der Corona-Pandemie betroffen. Spricht man mit Verbands-Vertreter*innen aus der Kultur- und Kreativwirtschaft, ist die Verunsicherung, wie einzelne Akteur*innen die nächsten Monate ökonomisch überstehen können, vielerorts geradezu greifbar. „Wir stehen noch vor vielen Monaten, wo sich gar nichts tut“, resümierte Klaus Wollny, Vorstand des Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft e.V..

Zehntausende Unternehmer*innen aus der Kreativ- und Kulturbranche, Betreiber*innen von Kinos, Clubs, Theatern und Galerien, Veranstalter*innen von Livekonzerten und Events fiebern dem Tag entgegen, an dem die Corona-Beschränkungen fallen und sie wieder zum „Normalbetrieb“ zurückkehren können. Die Hoffnung könnte sich jedoch als trügerisch erweisen: Abstands- und Hygieneregeln etwa, die uns vermutlich noch längere Zeit erhalten bleiben werden, drohen so manches Geschäftsmodell zu zerstören.

 

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Goya von Künstler Flavio Cury

Kein Zurück zur alten Welt

Angesichts solch enormer Unwägbarkeiten hält manch jemand eine Rückkehr zur heilen Welt der Zeit vor der Epidemie für illusorisch. Andreas Heinecke etwa, Erfinder der Hamburger Ausstellung Dialog im Dunkeln, in der blinde Guides die Besucher*innen über einen lichtlosen Parcours mit normalen Alltagssituationen führen, eine Art Hybrid aus Kultur- und Sozialentrepreneur, hält den „Versuch, zu erhalten, zu retten, was zu retten ist“, für völlig naiv – und möglicherweise für schlimmer als die Katastrophe selbst. „Denken wir groß, weit und tief“, appelliert Heinecke an sich, an sein Team und an die gesamte Kultur- und Kreativwirtschaft.

Sein Appell scheint auf fruchtbaren Boden zu fallen. In einer Umfrage, die das Kompetenzzentrum Ende April 2020 mit dem Deutschen Kulturrat zur Betroffenheit der Branche von der Corona-Krise unter den Verbänden durchgeführt hatte, äußerten viele Befragte die Hoffnung, dass die Krise auch als Chance für zukunftweisende Innovationen gesehen wird. Julia Köhn, Projektleiterin des Kompetenzzentrums, umreißt die Aufgabenstellung: „Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist eine sehr innovationsstarke Branche, die in der aktuellen Situation eine wichtige Rolle einnehmen kann. Die Herausforderung ist es, zu erkennen welche Chancen darin liegen in bestimmten Bereichen nicht einfach zum Zustand vor Corona zurückzukehren, sondern etwas Neues zu schaffen und das dann auch umzusetzen.“

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Von futuristisch bis realitätsgetreu: SciFi Ronit von Wolf und Marcus Morba

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Von futuristisch bis realitätsgetreu: SciFi Ronit von Wolf und Marcus Morba

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Von futuristisch bis realitätsgetreu: Die Villa von Jozefien de Praetere und Thomas van den Berge

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Von futuristisch bis realitätsgetreu: Die Villa von Jozefien de Praetere und Thomas van den Berge

Virtuelle Arbeitswelten könnten ein solches Zukunftsprojekt, ein Anknüpfungspunkt für eine Symbiose zwischen Kulturunternehmer*innen und Tekkies sein. Menschen wollen und müssen zusammenkommen, um Kreativität zu generieren. Videokonferenzen sind nicht die ideale Ideen-Brutstätte. „An bereits laufenden Projekten zu arbeiten ist die eine Sache“, erklärte Facebook-Chef Mark Zuckerberg kürzlich in einem Interview den entscheidenden Unterschied, „aber neue Ideen zu entwickeln, das ist etwas völlig anderes.“

In den vergangenen Wochen erhielten Menschen in vielen Teilen der Welt einen Vorgeschmack auf das Potenzial virtueller Locations. Im Juni etwa wurden 600.000 Zuschauer*innen Zeuge, als der französische Elektropop-Pionier Jean-Michel Jarre als Avatar in einem virtuellen Live-Konzert auftrat. Er stand mit VR-Helm in seinem Studio in der Nähe von Paris, wo seine Bewegungen aufgezeichnet und in eine virtuelle Veranstaltungshalle übertragen wurden.

Ende März wurde sogar eine komplette internationale Konferenz zu Virtual Reality, die IEEE VR 2020, coronabedingt von Atlanta ins Cyberspace verlagert. „Emotionale Präsenz ohne körperliche Anwesenheit herzustellen, das ist ein harter Brocken“, lautete das nicht völlig skepsisfreie Fazit eines Teilnehmers. Allerdings werde man wohl nicht darum herumkommen, neue Wege zu finden, „wie wir das Erlebnis, einen Raum mit jemanden zu teilen, herüberretten können in eine Zeit, in der das Diktat des körperlichen Abstands gilt.“

 

Zu den virtuellen Arbeitswelten aus dem Ideenwettbewerb von XR HUB Bavaria: https://xrhub-bavaria.de/topic/spaces/

Anstehende Veranstaltungen

Es gibt derzeit keine bevorstehenden Veranstaltungen.

Credits

Text: Andreas Molitor

Fotos: XR HUB Bavaria

Wie trägt Kultur- und Kreativwirtschaft zu mehr Kreislaufwirtschaft bei?

Prinzipien aus der Natur abzuschauen hat schon viele Erfindungen hervorgebracht. Insbesondere Kreislaufsysteme der Natur sind Vorbilder für ein nachhaltigeres Leben. Die Umgestaltung unserer Wirtschaft zu einem kreislaufwirtschaftlichen System stellt jedoch eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar, die nur branchenübergreifend und ganzheitlich gelöst werden kann. Im Unterschied zum deutschen Begriff „Kreislaufwirtschaft“, der sich auf den Umgang mit Abfall fokussiert, ist der englische Begriff „Circular Economy“ (also „zirkuläres Wirtschaften“) bereits viel weiter gefasst und betrachtet das gesamte Produktsystem. Hier geht es um durchdachte Kreisläufe von Anfang an, die bereits beim Design von Produkten beginnt.

Innovative Ideen und praktische Ansätze für zirkuläres Wirtschaften finden sich schon seit Jahren in der Kultur- und Kreativwirtschaft, zum Beispiel in der Architektur, im Produkt- und Materialdesign, der Film- und Veranstaltungsindustrie sowie dem Modemarkt. Viele Beispiele werden Sie in diesem Magazinschwerpunkt kennenlernen können

In unserer Kurzreportage zur Kreislaufwirtschaft haben wir diesmal mit Architekt*innen Sandra Düsterhus (Point.Architektur) und Martin Haas (haascookzemmrich) über die Ansätze bei ihren Projekten in der Außen- und Innenarchitektur gesprochen und was der Fokus auf Kreislaufwirtschaft auch für die Gestaltung bedeutet.