Orte der Zukunft Aachen Illustration Credits Carolin Eitel

Orte der Zukunft: Mobilitätsstandort Aachen

Mobilität findet nie isoliert statt, sondern immer in einem System. Damit die Mobilitätskette in Zukunft reibungsloser, effizienter und umweltfreundlicher wird, braucht es den Blick über die eigene Fachlichkeit hinaus. Dies ermöglicht der RWTH Aachen Campus — einem einzigartigen Netzwerk aus Wissenschaft und Wirtschaft.

Mobil zu sein ist heute eine zweischneidige Angelegenheit. Es ist grundlegender und schlecht verzichtbarer Bestandteil unseres modernen Lebens, ob bei privaten Reisen oder geschäftlichen Terminen. Gleichzeitig wird uns täglich bewusster, welche Auswirkungen unser Mobilitätsverhalten auf die Umgebung hat, in der wir leben – von Schadstoffemissionen bis zu den verstopften Straßen in den Städten.

Dr. Casimir Ortlieb ist CEO und Mitgründer der e.GO Digital GmbH mit Sitz auf dem RWTH Aachen Campus, die als Digitaltochter des Mobilitätsanbieters e.GO Mobile AG anwenderfokussierte digitale Lösungen rund um Mobilitätshemen und Industrie 4.0 entwickelt. Er befasst sich genau mit diesem Dilemma. Einen Teil der Lösung sieht er im Umstieg auf Elektromobilität, jedoch nicht nur: „Es reicht nicht, wenn wir alle Verbrennerautos nehmen und sie durch elektrische Fahrzeuge ersetzen.“ Die Herausforderung ist neben den Schadstoffemissionen die komplette Überlastung des Systems, es befinden sich zu viele Autos auf den Straßen. Das gesamte Mobilitätssystem muss betrachtet und überdacht werden. „Dazu gehören Elektroautos, aber eben auch der Blick über den Tellerrand.“, sagt Ortlieb. Eine rein technische Lösung reicht hier nicht, es müssen neue Konzepte her. Menschen, die heute alleine in einem Auto sitzen, sollen sich morgen mit anderen Transportmittel teilen, nur so kann die Anzahl der Autos auf den Straßen reduziert werden. „Mehrwert können wir nur durch tatsächlich wegbleibende Fahrzeuge erzeugen.“, sagt Ortlieb.

Logo RWTH Innovation Factory

„Es reicht nicht, wenn wir alle Verbrennerautos nehmen und sie durch elektrische Fahrzeuge ersetzen. […] Mehrwert können wir nur durch tatsächlich wegbleibende Fahrzeuge erzeugen.“

Dr. Casimir Ortlieb, CEO und Mitgründer der e.GO Digital GmbH

Um Menschen vom Ausstieg aus dem Individualverkehr überzeugen zu können, muss ihnen jedoch eine reibungsfreie Mobilitätskette gewährleistet werden können. So bekommt das Thema Interdisziplinarität noch eine weitere Dimension. Stadtplanung muss sich an den neuen Werten der Gesellschaft orientieren und Nutzer*innen in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen. Auch Kooperationen mit Branchen, die beim Thema Mobilität nicht gerade auf der Hand liegen, sollten angedacht werden, wie zum Beispiel der Immobilienbranche: „Es ist sinnvoll, morgen nicht nur Fläche zu vermieten, sondern Fläche und Mobilität.“ Auch daran wird bei e.GO Digital gearbeitet. Die Plattform e.Base soll das Sharing-Konzept auch für Menschen attraktiver machen, die nicht in Stadtzentren leben. Nicht nur Autos sollen unkompliziert geteilt und somit in ihrer Gesamtzahl reduziert werden. e.Base ist zusätzlich Nachbarschaftskonzept, über das sich im Sommer der Grill vom Nachbarn ausgeliehen oder über das die Paketannahme im Haus organisiert werden kann. So können, mit gelebter Sharing-Ökonomie, Quartiere – inner- und außerstädtisch – sowie einzelne Wohn- und Gewerbeimmobilien nahtlos in die Mobilitätskette eingegliedert werden.

Bündelung vorhandener Ressourcen

Eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung solcher übergreifender Konzepte spielt die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Von entscheidendem Vorteil ist dabei die räumliche Nähe aller Akteur*innen (von Gründungswilligen über die Menschen mit Knowhow bis zu Kapitalgeber*innen), wie sie beispielsweise im Silicon Valley gegeben ist.

Ein Ort in Deutschland, an dem Interdisziplinarität bereits gelebt wird, ist der RWTH Aachen Campus. „Die Bündelung der schon vorhandenen Ressourcen, wie wissenschaftliche Mitarbeiter*innen und Unternehmensmitarbeiter* innen, mit Unternehmer*innen, die hier ansässig sind, aber auch mit dem Maschinenpark der hiesigen Technologieführer – das zusammen, glauben wir, schafft den relevanten Vorsprung vor dem Wettbewerb, nämlich schnell einer Fragestellung entsprechend die richtigen Kompetenzen zusammenbringen zu können und sich im besten Falle schon zu kennen“, sagt Ortlieb. Die Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft ist bemerkenswert, denn sie ist, vor allem in Deutschland, keine Selbstverständlichkeit und dürfte dem Standort Aachen in der Tat zu einem Wettbewerbsvorsprung verhelfen.

Innovation Factory & RWTH Aachen Campus

Die Innovation Factory auf dem RWTH Aachen Campus ermöglicht Unternehmen, Innovationen schnell und kostengünstig an einem Ort zu realisieren – im Alleingang oder im Konsortium. Der Innovationsprozess basiert auf den fünf Phasen Ideengenerierung (Ideation), Kundenorientierung (Customer Focusing), Entwicklung (Development), Prototypenbau (Prototyping) und Industrialisierung (Industrialization). Dazu bietet das Ökosystem des RWTH Aachen Campus, wo Wissenschaft und Wirtschaft eng zusammenarbeiten, die erforderliche Infrastruktur. Die Experten der Innovation Factory konfigurieren für ein Projektteam eines Unternehmens zielgerichtet die individuell benötigten Kompetenzen.

Auf dem RWTH Aachen Campus arbeiten interdisziplinare Wissenschaftlerteams und Industriekonsortien gemeinsam an speziellen Zukunftsfragen mit visionären Lösungsansätzen, unter anderem auch an Mobilitätsthemen. Gleichzeitig arbeiten Gesellschaften wie die e.GO Mobile AG, e.GO MOOVE GmbH, e.GO Digital, e.2GO GmbH, e.GO Rex GmbH und e.SAT GmbH, die für elektrobezogene Innovationen auf dem RWTH Aachen Campus stehen, an ganzheitlichen Lösungsstrategien für die Mobilität der Zukunft.

Eine Entwicklung auf dem RWTH Aachen Campus ist beispielsweise das Elektroauto e.GO Life. Die e.GO Mobile AG wurde 2015 von Prof. Dr. Günther Schuh als Hersteller von kostengünstigen und kundenorientierten Elektrofahrzeugen gegründet und ist in das Netzwerk des RWTH Aachen Campus mit seinen Forschungseinrichtungen und über 400 Technologieunternehmen eingebettet. Seit Herbst 2019 werden die ersten e.GO Life ausgeliefert, für den es aktuell 3.000 Vorbestellungen gibt. Neben dem Pkw gibt es noch den e.GO Mover, ein Elektrobus für bis zu 15 Personen. „e.GO ist wohl der prominenteste Case, an der die Idee des RWTH Aachen Campus erkennbar ist. e.GO ist letztendlich ein Unternehmen, das aus einer Idee heraus gegründet wurde, die auch im Kontext der Innovation Factory auf dem RWTH Aachen Campus diskutiert, konzipiert und entwickelt und am Anfang auch mit Ressourcen und Kompetenzen der Innovation Factory ausgestattet war,“ sagt Ortlieb, der auch Executive Board Member der Innovation Factory ist.

Orte der Zukunft Aachen Illustration Credits Carolin Eitel

E-Mobilität für viele

Um den e.GO Life nicht nur für eine breite Masse, sondern auch Unternehmensflotten attraktiv zu machen, war es oberstes Gebot, seinen Preis so klein wie möglich zu halten. Dabei ruht das Kosteneinsparpotenzial im Wesentlichen auf drei Säulen.

  1. Alles Überflüssige weglassen. „Wir glauben, dass ein Elektroauto nicht einfach ein Ersatz für einen Verbrenner sein sollte. Das heißt, wir sehen keine Notwendigkeit für eine 500 Kilometer Reichweite oder für eine hohe Spitzengeschwindigkeit. Wir glauben, dass der sinnvollste Anwendungsbereich tatsächlich der urbane ist, in der Stadtperipherie oder in der Umgebung. Dadurch können wir vergleichsweise kleine Batterien verwenden“, sagt Ortlieb.
  2. Thermoplast statt lackieren. Um blechgeformte Teile zu lackieren (das traditionelle Verfahren) braucht es entsprechende Anlagen. „Das wäre eine dreistellige Millionen-Investition gewesen, darauf haben wir verzichtet. Wir arbeiten mit durchgefärbtem Thermoplast.“ Das sei nicht nur günstiger in der Herstellung, sondern hätte in der Folge auch Vorteile in der Praxis: „Selbst mit einem Schlüssel entsteht nicht sofort ein Lackschaden, wie man das von lackiertem Blech kennt. Außerdem kann der Kunststoff relativ günstig ausgetauscht werden.“
  3. Neuartiges Chassis. „Wir arbeiten mit einem Stahl-Aluminium-Chassis. Die gefärbten Thermoplastteile werden sozusagen nur daran angeflanscht. Wir haben keine selbstragende Karosserie mehr.“, erläutert Ortlieb.

Das einfachste e.GO-Modell liegt bei 17.900 Euro (zum Vergleich, schon ein VW E-up liegt bei einem Einstiegspreis von 22.000 Euro, ein Tesla Model S gibt es ab 87.000 Euro). Zusätzliche Ausstattungen wie Klimaautomatik oder Parkassistent können dazu gebucht werden. So wird zum einen Zugänglichkeit für den Endverbraucher geschaffen. Zum anderen, und das ist vielleicht noch wichtiger, wird Unternehmen der Umstieg auf E-Mobilität erleichtert. Sie sind es, die mit ihren Flotten einen signifikanten Unterschied in Sachen Schadstoffreduktion leisten können.

Orte der Zukunft Aachen Illustration Credits Carolin Eitel

Innovation durch Nutzer*innenzentrierung

„Wir haben bei der Entwicklung des e.GO Life von Anfang an versucht, das klassische Silo-Denken aufzulösen. Wir arbeiten in einem jungen Team mit Leuten, die es nicht anders gewohnt sind als in agiler und kollaborativer Austauschatmosphäre zu arbeiten. Und das ist, glaube ich, ein wesentlicher Erfolgsfaktor: frühzeitig Parteien abzuholen und disziplinübergreifend gemeinsam ein Problem zu definieren.“ Zusätzlich wird schon im frühen Stadium die Perspektive der wichtigsten Stakeholder mit einbezogen, die der Kunden. Das ist im traditionellen deutschen Autobau ein relativ neues Konzept, zumindest in seiner vollen Radikalität. Hier zählte lange die Perspektive von Ingenieur*innen. „Wir glauben nicht daran, dass wir Probleme lösen werden, wenn wir mit technischen Lösungen alleine kommen. Wir glauben stark an die Nutzer*innenzentrierung.“ Damit setzt sich in der Automobilbranche ein Denkmuster durch, das in Technologie- Startups oder Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft gang und gebe ist. Es ist ein Hinweis darauf, wie sinnvoll es ist, die Kultur- und Kreativwirtschaft in Innovation Hubs von Anfang an miteinzubeziehen.

 


 

Was sind die Orte der Zukunft?

Überall im Bundesgebiet gibt es Orte, an denen sich Menschen mit Zukunftsgestaltung beschäftigen, neue Ideen testen und Lösungsansätze entwickeln. Um einen Überblick zu gewähren, wo solche Orte zu finden sind und eine Vorstellung zu vermitteln, bei welchen Themen die Kultur- und Kreativwirtschaft sinnvolle Impulse für die Zukunft liefern kann, schicken wir den freien Journalisten Björn Lüdtke genau dorthin – auf eine Reise durch Deutschland und die Zukunft. Hier können Sie seine Route komplett verfolgen. Die “Orte der Zukunft” sind Teil des Fiction Forums der Kultur- und Kreativwirtschaft.

Kennen Sie auch einen Ort der Zukunft? Dann schreiben Sie uns: presse@kreativ-bund.de

Credits

Text: Björn Lüdtke

Fotos: Illustration: Carolin Eitel

Anstehende Veranstaltungen

  1. Sommerpavillon der Kultur- und Kreativwirtschaft

    21. Juni - 4. Oktober

Credits

Text: Björn Lüdtke

Fotos: Illustration: Carolin Eitel

Künstliche Intelligenz als Werkzeug von Kreativen

Die fortschreitende Digitalisierung verändert tiefgreifend, wie wir leben, arbeiten und auch politisch partizipieren. Eine der großen Herausforderungen unserer Zeit ist, sowohl die politische Teilhabe zu stärken als auch die Demokratie vor digitalen Bedrohungen zu schützen.

Durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz wird beispielsweise kreative Teilhabe für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich, indem komplexe Werkzeuge und Techniken auch ohne tiefe Fachkenntnisse genutzt werden können. KI ermöglicht es Menschen aus verschiedenen Hintergründen, ihre kreativen Ideen zu verwirklichen und neue Formen der künstlerischen Zusammenarbeit zu erkunden. Das fördert die Vielfalt und Innovation in der kreativen Landschaft. Gleichzeitig stellt diese Entwicklung die traditionellen Vorstellungen von Urheberschaft und Originalität infrage, da KI-gestützte Kreativität zunehmend die Grenze zwischen menschlicher und maschineller Schöpfung verwischt.

Auch die Fragen, was Kreativität bedeutet und wo die Kernkompetenzen der Kreativschaffenden liegen, werden an Wichtigkeit gewinnen und ihre Antworten sowohl Herausforderungen als auch Chancen mit sich bringen. KI ist auf dem heutigen Stand eher nicht „kreativ“ – aber sie verändert kreative Prozesse. Sie kann Kreativschaffende in ihrer Kreativleistung unterstützen, sie erweitern und als Inspirationsquelle dienen.

In unserer Kurzreportage sprechen wir mit den Künstlern Julian van Dieken und Roman Lipski über das Potenzial von KI als künstlerische Muse und Werkzeug, das neue Zugänge und Innovationsprozesse ermöglicht.