terra0_Credits_terra0_2

Der digitale Wald

Wenn wir Deutschen an Natur denken, dann meistens an den Wald. Er gilt als unberührter Sehnsuchtsort, aber die Realität ist eine andere. Der Wald sieht sich heute im Kreuzfeuer widersprüchlicher Anforderungen zwischen Kommerz und Naturschutz. Aber wie würde der Wald über sich entscheiden, wenn er sich selbst gehören würde? Und wie würde es aussehen, wenn er selbst unternehmerisch tätig wäre? Das Kunstprojekt terra0 spielt diesen Gedanken durch. Die Werkzeuge sind Smart Contracts und Künstliche Intelligenz. Der von Menschenhand unberührte digitale Wald — ein Ort der Zukunft?

terra0_Credits_terra0_2

Die Verklärung des Bildes, das Deutsche von ihrem Wald haben, hat ihren Ursprung in der Romantik. Mit der Industrialisierung um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gingen Urbanisierung und Landflucht einher. In Deutschland reagierten Akteure der bildenden Kunst, Literatur und Musik mit einem Eskapismus in eine verloren geglaubte Geborgenheit. Dabei ist gerade unser Wald alles andere als ein naturbelassenes Ökosystem, sondern eine von Menschenhand geschaffene Kulturlandschaft, die als solche im Kreuzfeuer konfligierender Ansprüche steht. Zum einen soll er uns als Naherholungsort dienen, als Sauerstofflieferant und zum Binden von CO2 — Funktionen, in denen wir den Wald möglichst unberührt sehen wollen. Zum anderen wollen wir seine Bäume fällen, nicht nur an Weihnachten, sondern vor allem auch als Rohstoff für die immer stärker wachsende Bio-Ökonomie. Jetzt, wo erdölbasierte Rohstoffe immer mehr in Verruf geraten, soll er vermehrt Holz für die Produktion von zum Beispiel Papier- statt Plastiktüten liefern, aber auch für neue Materialen aus Holzzellstoff, wie zum Beispiel Stoffe für Kleidung.

terra0_Credits_terra0_2

25 Prozent unserer Wälder sind Monokulturen, die besonders anfällig für Schädlinge sind, vor allem den Borkenkäfer. Ulrich Dohle ist Bundesvorsitzender beim Bund Deutscher Forstleute und sagt in einem Interview mit der Zeit: „Im Moment haben wir dadurch eine Schadensfläche von knapp 120.000 Hektar Wald in Deutschland – eine Fläche, so groß wie Berlin.“. Waren es lange nur die Fichten, fallen ihm nun auch vermehrt Buchen zum Opfer, eine Baumart, die in Zukunft eigentlich verstärkt eingesetzt werden sollte, um mehr Mischwälder zu etablieren. „Auf jeden Fall muss es ein gemischter Wald sein mit einer vergleichsweise hohen Vielfalt an Baumarten. Davon versprechen wir uns eine höhere Stabilität dem Klima gegenüber.“

 

Smart Contracts

Paul Seidler ist Künstler und Researcher und Mitgründer des Kunstprojekts terra0, das sich mit der Frage beschäftigt, wie Eigentum definiert wird und welche Entitäten überhaupt Eigentum halten können. Der Versuch einer Antwort wird künstlerisch am Beispiel Wald durchgespielt: Kann der Wald sich selbst gehören?

Ein augmentierter Wald ist der digitale Zwilling eines realen Waldes. Er bildet ab, in welchem Zustand sich einzelne Bäume und ein gesamter Wald befinden. Anhand des Gesamtbildes können dann bestimmte Entscheidungen getroffen werden, zum Beispiel wie viele und welche Bäume gefällt werden sollen. Bei terra0 sollen solche Entscheidungen mit Hilfe von Smart Contracts getroffen werden. Das sind, wie ich bei Wikipedia erfahre, „Computerprotokolle, die Verträge abbilden oder überprüfen oder die Verhandlung oder Abwicklung eines Vertrags technisch unterstützen können.“ . Smart Contracts können in Blockchains integriert werden, was es praktisch unmöglich macht, sie unbemerkt zu verändern.

Ein Beispiel für eine einfache Regel, die in einem solchen Smart Contract abgebildet werden könnte ist, „Wenn 80 Prozent der Bäume im Wald gesund sind, dürfen 5 Prozent abgeholzt und verkauft werden.“ Nach der Idee von terra0 könnte ein Wald sich so seinen eigenen Rückkauf finanzieren — und so selbst zum Unternehmer werden. Bezüglich der technischen Umsetzbarkeit ist terra0 nicht weit von der Realität entfernt. Sensoren überprüfen Lufttemperatur, Luftfeuchtigkeit oder Bodenfeuchte und geben ein Bild über den Zustand des Waldes ab. Bäume, die über ihr Befinden twittern, hat es schon gegeben (mehr dazu hier). Roboter, die auf Kommando einer KI Bäume fällen sind durchaus denkbar.

terra0_Credits_terra0_1

Bonsai-Simulation des digitalen Waldes

terra0_Credits_terra0_3

Im Museums-Kontext durchgespielt: Kann ein Wald sich selbst gehören?

Solche Fällregeln können von Menschen festgelegt werden. Denkbar ist aber auch ein anderes Szenarium. In einem nächsten Schritt des Projekts will terra0 rechtlich testen, ob ein Wald oder Waldstück zu einer juristischen Person werden kann. „Wir sind gerade dabei, in New York durchzuspielen, wie es rechtlich aussähe, wenn wir eine wirtschaftliche Entität in Form einer Ltd CC um einen Smart Contract herum konstruieren und dementsprechend dieser wirtschaftlichen Entität menschlichen Einfluss entziehen. Im Prinzip würde dann alles über eine Blockchain-Entität und ein KI-System gesteuert.“

Mehr will Seidler zu diesem Zeitpunkt noch nicht verraten. Aber es wird klar, dass der Wald nicht mehr nur Pflichten hätte, sondern als juristische Person auch Rechte bekäme — durch Smart Contracts ausgelöste und durch KI gesteuerte Handlungen wären rechtskräftig.

 

Digitalisierung schützt den Wald vor den Menschen

Die Macher des Kunstprojekts terra0 sehen ihr Projekt als diskursive Arbeit, die unser Bild von Natur hinterfragen und dessen Diskussion anstoßen will: Was ist Natur? Muss ökologischen Systemen mehr Platz eingeräumt werden und welche Rolle können digitale Techniken dabei spielen? Paul Seidler: „Das Bild vom Wald als unberührte Natur muss demontiert werden, weil es nicht der Realität entspricht.“

Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen dem Kunstprojekt terra0 und der Realität. Ist der autonome Wald mit eigenen Rechten eher Utopie oder Dystopie? So oder so wäre es nicht das erste Mal, dass (Science) Fiction die Wirklichkeit vorwegnimmt. Denken wir nur daran, wie Fritz Langs Metropolis das Erscheinungsbild moderner Megacities vorhergesehen hat oder es Touch Interfaces von Star Trek bis zum iPad geschafft haben.

Science Fiction Prototyping oder auch Design Fiction werden in der Kultur- und Kreativwirtschaft als Methode angewendet. Es werden fiktive Narrative entwickelt, um Zukunftsszenarien bildlich zu machen und Diskurse darüber anzustoßen. terra0 ist eine solch fortgeschriebenes Narrativ und ermöglicht meiner Lesart nach das Stellen folgender Frage: Muss der Wald vorm Menschen geschützt werden und liefert die Digitalisierung das Werkzeug dazu?

terra0_Credits_terra0_2

Ist der autonome Wald mit eigenen Rechten eher Utopie oder Dystopie? So oder so wäre es nicht das erste Mal, dass (Science) Fiction die Wirklichkeit vorwegnimmt.

In Zeiten, in denen rund um den Globus Wälder brennen will der US-Präsident Regenwälder in Alaska zur Abholzung freigeben. Was würden die Wälder entscheiden, gehörten sie sich selbst? Gäbe es hierzulande wieder mehr gesunden Mischwald, wenn der Wald ein Recht auf Selbsterhalt hätte? Auch, wenn es uns fremd erscheint oder gar Angst macht — der digitale, sich selbst verwaltende Wald scheint in diesem Zusammenhang keine schlechte Idee.

Für alle, die selbst ein bisschen mit der Zukunft des Waldes spielen wollen gibt es nun terra1, ein Forschungsprojekt, das gemeinsam mit den Künstlern des Projektes terra0 entwickelt wurde, aber seit einer Weile unabhängig davon läuft. Mit einem Serious Game soll unter anderem herausgefunden werden, welche Ansprüche von der Gesellschaft an den Wald gestellt werden — Von Extremwetterschutz über Biodiversität bis hin zu mehr Effizienz in der Holzproduktion.

 


 

Was sind die Orte der Zukunft?

Überall im Bundesgebiet gibt es Orte, an denen sich Menschen mit Zukunftsgestaltung beschäftigen, neue Ideen testen und Lösungsansätze entwickeln. Um einen Überblick zu gewähren, wo solche Orte zu finden sind und eine Vorstellung zu vermitteln, bei welchen Themen die Kultur- und Kreativwirtschaft sinnvolle Impulse für die Zukunft liefern kann, schicken wir den freien Journalisten Björn Lüdtke genau dorthin – auf eine Reise durch Deutschland und die Zukunft. Hier können Sie seine Route komplett verfolgen. Die “Orte der Zukunft” sind Teil des Fiction Forums der Kultur- und Kreativwirtschaft.

Kennen Sie auch einen Ort der Zukunft? Dann schreiben Sie uns: presse@kreativ-bund.de

Anstehende Veranstaltungen

Es gibt derzeit keine bevorstehenden Veranstaltungen.

Credits

Text: Björn Lüdtke

Fotos: terra0

Wie trägt Kultur- und Kreativwirtschaft zu mehr Kreislaufwirtschaft bei?

Prinzipien aus der Natur abzuschauen hat schon viele Erfindungen hervorgebracht. Insbesondere Kreislaufsysteme der Natur sind Vorbilder für ein nachhaltigeres Leben. Die Umgestaltung unserer Wirtschaft zu einem kreislaufwirtschaftlichen System stellt jedoch eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar, die nur branchenübergreifend und ganzheitlich gelöst werden kann. Im Unterschied zum deutschen Begriff „Kreislaufwirtschaft“, der sich auf den Umgang mit Abfall fokussiert, ist der englische Begriff „Circular Economy“ (also „zirkuläres Wirtschaften“) bereits viel weiter gefasst und betrachtet das gesamte Produktsystem. Hier geht es um durchdachte Kreisläufe von Anfang an, die bereits beim Design von Produkten beginnt.

Innovative Ideen und praktische Ansätze für zirkuläres Wirtschaften finden sich schon seit Jahren in der Kultur- und Kreativwirtschaft, zum Beispiel in der Architektur, im Produkt- und Materialdesign, der Film- und Veranstaltungsindustrie sowie dem Modemarkt. Viele Beispiele werden Sie in diesem Magazinschwerpunkt kennenlernen können

In unserer Kurzreportage zur Kreislaufwirtschaft haben wir diesmal mit Architekt*innen Sandra Düsterhus (Point.Architektur) und Martin Haas (haascookzemmrich) über die Ansätze bei ihren Projekten in der Außen- und Innenarchitektur gesprochen und was der Fokus auf Kreislaufwirtschaft auch für die Gestaltung bedeutet.