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Ein Eingriff ins Gesamtsystem

Auf dem neuen Forschungscampus der Robert Bosch GmbH hat das Künstlerduo Wimmelforschung mit dem Projekt Platform 12 einen Freiraum geschaffen, in dem sich Forscher und Künstler austauschen können: nichttechnische Innovation in einem technikorientierten Unternehmen. Ein Auszug aus dem Buch "Wirtschaft trifft Kunst", herausgegeben von Ulrike Lehmann.

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Das Projekt in Kürze

Unter dem Motto „Vernetzt für Millionen Ideen“ eröffnete die Robert Bosch GmbH im Oktober 2015 in Renningen bei Stuttgart ihr neues Zentrum für Forschung und Vorausentwicklung. Auf dem neuen Forschungscampus bündelt Bosch 1700 Mitarbeiter und Doktoranden aller Forschungsbereiche, die hier disziplinübergreifend und eng vernetzt an den technischen Herausforderungen der Zukunft arbeiten.

Teil des neuen Forschungscampus ist Platform 12, ein Experimentierraum, der den Forschern als Ort der Reflektion und kreative Freifläche dient, in der unabhängig von der Organisationsstruktur des Unternehmens gearbeitet werden kann. Entwickelt und gestaltet wurden der Raum und seine inhaltliche Ausrichtung von dem Künstlerduo Wimmelforschung, Maren Geers und Thomas Drescher in Zusammenarbeit mit Birgit Thoben, Senior Innovation Manager der Robert Bosch GmbH. Besonderes Merkmal des Raums ist die kontinuierliche Anwesenheit eines Künstlers, der in Kooperation mit der Akademie Schloss Solitude für jeweils drei Monate das Wimmelforschungs-Stipendium erhält.

 

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Der_erste_künstlerische_Agent_Michl_Schmidt_Foto_Bosch

Wir leben in einer dynamischen Welt

Die Innovationsleistungen der angewandten Forschung aus Industrie und Wirtschaft beeinflussen die zukünftige Ausgestaltung unserer Gesellschaft maßgeblich. Längst hat sich, getrieben durch den technologischen Wandel, eine Kultur der Spezialisierung entfaltet, die zu einer sehr eindimensionalen Betrachtung unserer Welt führt. So wundert es nicht, dass diese Innovationen meistens nur nach der Qualität des technischen Fortschritts beurteilt werden und nicht danach, ob sie auch zu einem sozialen und gesellschaftlichen Mehrwert beitragen.

Gegenwärtig interagieren Unternehmen, die die Innovationen bereitstellen, und die Gesellschaft, die darauf zugreift, vor allem über den Markt. In dieser Konstellation stellt sich die Frage: Wie kann sich die Unternehmenswelt öffnen, um aus der reinen Marktorientierung auszubrechen und mehr als einen ökonomischen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten?

Ein erster Ansatz zu einer Antwort auf diese Frage könnten Versuche wie die der Robert Bosch GmbH und der Wimmelforschung sein, Forscher und Künstler unter einem Dach zusammenzubringen. Maren Geers und Thomas Drescher warnen allerdings vor der im ökonomischen Kontext beliebten Ansicht, dass Kreativität eine rein wirtschaftliche Ressource sei oder als Methode der Wirtschaft zu immer neuen Innovationsschüben verhelfen könne. Diese Betrachtungsweise ist für die Wimmelforscher lediglich der Ausdruck einer nach wie vor zu eindimensionalen, spezialisierten Wahrnehmung unserer Welt. Als wirtschaftliche Ressource wird Kreativität zu einem Zwang. Statt die Welt zu erweitern, wird sie durch die rein ökonomische Brille klein und eng. Platform 12 ist für sie daher auch keine Ideenmaschinerie, sondern ein Ort, der Fragen produziert.

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Ich glaube auch, dass die Bereiche der Wirtschaft und Kunst trotz ihrer oft gegensätzlichen Ansätze sehr viel voneinander lernen können. Hier liegt viel Potenzial für unsere Zukunft, da wir uns völlig neuen Problemen stellen müssen und ich glaube, dass man diesen Problemen nur gewachsen ist, wenn sich unsere Gesellschaft mit ihren Werten, Zielen, Systemen und Strukturen komplett verändert. Es geht um die Bewegung hin zu einer Wissensgesellschaft, in der man die Dinge neu zusammendenkt.

Maren Geers
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Unternehmen, die zukunftsfähig sein wollen, brauchen den Dialog mit der Gesellschaft. Sie müssen neue soziale Strukturen als Rahmenbedingungen für Innovationen aufbauen und auf gesellschaftlicher Ebene daran mitwirken, dass sich ein neues Verständnis von Innovation durchsetzt, welches nicht ausschließlich die Technik als alleinigen Innovationsantrieb gelten lässt.

Eine ganzheitlichere Perspektive würde Innovation als etwas begreifen, das in eine Umwelt eingebettet ist, die nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine soziale Dimension hat. Deshalb werden auf dem Feld der technischen Innovationen Beteiligungsmöglichkeiten benötigt, aus denen gemeinschaftliche, im Dialog gewonnene Zukunftsentwürfe hervorgehen. In solch einer Beteiligungszukunft wäre ein forschendes Handeln zugleich auch gemeinschaftliches Handeln, das unüberschaubar viele, sich stetig wandelnde, zukunftsbildende Prozesse in Gang setzt. Die Gesellschaft sollte dabei immer ein aktiver Mitgestalter sein.

In diesem Zusammenhang beabsichtigt die Wimmelforschung, ein weltweites, agentenbasiertes Netzwerk aus unterschiedlichen Künstlern und konstruktiven Denkern aufzubauen, die in diesem Kontext arbeiten wollen. Sie hätten auf diese Weise die Möglichkeit, zukunftsbildende Prozesse aktiv anzustoßen und sichtbar mitzugestalten. Diese gegensätzlichen Gemeinschaften, sie begreifen die Zukunft als eine fortwährende Entwurfsarbeit, eröffnen neue Perspektiven auf unsere Wirklichkeit und machen sichtbar, was nicht linear und berechenbar vor uns liegt: Welten, in denen sich noch niemand eingerichtet hat.

 

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Nicht wirklich kontrollierbar – Der Raum

Platform 12, genauer: ‚Plattform für außergewöhnliche Angelegenheiten und alles Unbekannte‘, bezeichnet ein dreiteiliges Raumensemble, welches sich aus der Base, einem Think Tank und zwei Talk Terminals zusammensetzt. Gemeinsam bilden die Räume einen zentralen Ort, um Wissen auszutauschen, sich zu vernetzen und disziplinübergreifend zu arbeiten.

Ich finde, Bosch hat eigentlich genug Ideen. Die Menschen, die dort arbeiten, sind sehr kreativ. Die Frage ist nur, wie diese Ideen sichtbar gemacht und bewertet werden. Ich für meinen Teil würde sagen, dass es nicht an der Ideengenerierung an sich mangelt, sondern dass das Problem eher darin liegt, dass diese Ideen und der Arbeitsprozess eines jeden Mitarbeiters nicht immer strukturkonform sind und Hürden überwunden werden müssen, die oftmals so groß sind, dass die Umsetzung der Ideen letztlich daran scheitert. […]

Der Raum fördert den Menschen zutage. […]

Thomas Drescher, Wimmelforschung

Platform 12 ist bewusst als Kontrapunkt zur Arbeitsumgebung in den Büros und Laboren gestaltet, unter anderem mit künstlerischen Elementen, die irritieren und zur Reflexion anregen, sowie Einzelstücken aus der Bosch-Historie, wie zum Beispiel einer Werkbank aus dem ersten Bosch-Werk in Stuttgart-Feuerbach. Die Gestaltung und Funktionsweise des Raumes unterwandern vorhandene Strukturen und schaffen so einen Freiraum, der nicht nur als Ideen- und Inspirationsquelle dient, sondern auch als ein Ort, der Fragen hervorbringt. Im Allgemeinen wird die Base als ein kreativer und für Bosch eher untypischer Ort gesehen, „an den man geht, wenn man nicht weiß, was man sucht”, so Birgit Thoben.

In der Philosophie ist der Raum so angelegt, dass er versucht, diese Bosch-eigenen Strukturen und Systeme ein Stück weit über Bord zu werfen, um mehr Freiheit zu etablieren, sodass man mehr mit dem umzugehen lernt, was nicht linear und berechenbar vor einem liegt. […]

Unser Wunsch ist es, dass wir den Raum selbst zum Beispiel in zwei Jahren nicht wiedererkennen. Unsere Gestaltung und das Konzept sollen anregen und Freiheit eröffnen. Sie soll nicht durch dominantes Design neue Vorschriften etablieren.

Maren Geers, Wimmelforschung

Die Objekte – etwa der unentdeckte Planet, das Black Box-Regal oder der intergalaktische Couchdoktor – changieren zwischen vermeintlich sinnvollen Nutzungsangeboten und zweckfrei erscheinenden Gegenständen. Systeme und Strukturen werden durch die Gestaltung bewusst unterwandert. Das Black Box-Regal beispielsweise ist eigentlich dazu da, Ordnung zu schaffen und Dinge zu lagern. Aber es besteht aus so vielen Schubladen, dass das Wiederfinden schwierig wird.

Das ist schon ein hybrider Raum, glaube ich. Weil das auf dem Forschungscampus der einzige Raum ist, wo jeder hinkommen kann, um sich auszutauschen oder was zu zeichnen, zu malen, zu schreiben, zu formen. Und du kannst die Sachen einfach liegen lassen. Dann können andere kommen und schauen.

Kestutis Svirnelis, künstlerischer Agent
Unentdeckter_Planet_auf Platform_12_Foto_Wimmelforschung
Hochstuhl_auf_Platform_12_Foto_Wimmelforschung

Das Entdecken von Möglichkeiten - Der künstlerische Agent

Das wesentliche Merkmal von Platform 12 ist die dauerhafte Anwesenheit eines Künstlers, bislang Stipendiaten der Akademie Schloss Solitude, der als künstlerischer Agent für jeweils drei Monate auf Platform 12 arbeitet.  Sie müssen ein ernsthaftes Interesse an einem disziplinübergreifenden Austausch haben und dem speziellen Arbeitsumfeld gegenüber sensibel sein.  Das Konzept des Stipendiums sieht vor, dass die künstlerischen Agenten für die Dauer von drei Monaten auf Platform 12 anwesend sind. Inhaltlich und thematisch werden ihnen keine Vorgaben gemacht, jedoch sollen sie sich reflexiv auf den Organisationskontext beziehen. Die künstlerischen Arbeiten können generell visuell gestaltet, aber auch konzeptuell, interaktiv oder performativ gedacht sein. Die bisherigen Projekte entstanden im Wesentlichen organisch und wuchsen aus der vorgefundenen Unternehmensstruktur heraus. So entwickelten sich unter anderem bildhauerische Arbeiten, die zum Teil ganz konkret ortspezifisch waren, als auch ephemere, performative Arbeiten, die sich interaktiv zum Ort verhielten. Auch entstanden Arbeiten in Kollaboration mit den Mitarbeitern selbst.

Wir sind nicht als Künstler, sondern als Agenten dort. Das heißt Handelnde, Ausführende. Vielleicht aber auch Vermittelnde. Und ich glaube, dass es in diesem Kontext spannend ist, die Rolle als jemand einzunehmen, der eine andere, nämlich künstlerische oder kreative Perspektive vermittelt. Einfach nur, indem man über das spricht, was man selbst gerade macht oder was der andere macht.

Sybille Neumeyer, künstlerische Agentin
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2017 blicken die drei Partner bereits auf zwei Jahre gemeinsamer Zusammenarbeit zwischen Kunst und Forschung zurück. Zehn Wimmelforschungs-Stipendiaten aus unterschiedlichen Disziplinen von Architektur über Bildhauerei und Medienkunst bis hin zur Klangpoesie haben schon an dem Programm teilgenommen und von dem Austausch profitiert. »Was mich an diesem Projekt interessiert, ist, dass es wirklich ein experimentelles Setting darstellt, dessen Teil ich selbst bin. Das heißt ich reflektiere mich selbst innerhalb dieses Systems. Und das ist für mich ein ziemlich spannender Moment«, sagt die Künstlerin Sybille Neumeyer über ihre Arbeit auf Platform 12.  »Der gemeinsame Dialog bestand vor allem darin, sich darüber auszutauschen, auf welche Art Ideen verfolgt werden, die etwas ganz anderes zum Ziel haben, als das, was wir machen. Und anschließend zu überlegen, wie diese Ideen an anderer Stelle auch wieder mit unseren Ansätzen zusammengeführt werden können. Dies stellte für uns einen enormen Lernprozess dar«, fasst es Klaus Meyer, Experte für Tribologie und Pumpen im Zentralbereich Forschung und Vorausentwicklung, Robert Bosch GmbH, zusammen.

 

Aktion_Fahrstuhlmusik_mit_dem_Künstler_Elmar_Mellert_Foto_Wimmelforschung

Zur Wimmelforschung

Die Wimmelforschung ist ein künstlerisches Unternehmen, das 2013 von den Bühnenbildnern und Konzeptkünstlern Maren Geers und Thomas Drescher in Berlin gegründet wurde. Gemeinsam begleiten und unterstützen sie Organisationen aus Wirtschaft und Gesellschaft bei experimentellen, zukunftsbildenden Prozessen und nichttechnischen Innovationen. Mit ihrer künstlerischen Arbeit initiieren sie Prozesse, die etablierte Sichtweisen und Strukturen kritisch hinterfragen und neue Möglichkeitsräume öffnen. Wimmelnd forschen heißt, die Welt aus der Perspektive eines Ahnungslosen und Fragenden zu betrachten und als einen gestaltbaren Möglichkeitsraum zu denken und zu behandeln.

Unsere Arbeit gleicht einem schwarzen Loch, das seine Umgebung anzieht, das die Wirklichkeit krümmt, um sie mit anderen Augen zu sehen.

Maren Geers, Thomas Drescher

Eine Auswahl der aktuellen künstlerischen Ergebnisse sowie ein ausführliches Interview zur Entstehung der Platform 12 mit Birgit Thoben und dem Künstlerduo Wimmelforschung, Thomas Drescher und Maren Geers, sind unter folgenden Links einzusehen:

Kinga Tóth »Living Text Bodies«
Isabel Zintl »Nachdenken über neue Freiräume in Stuttgart West«
Ursula Achternkamp »Auswildern«
Jol Thomson »Deep Time Machine Learning«

 

Wimmelforschung besteht aus:

Thomas Drescher, geb. 1978, absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Lokführer bei der Deutschen Bahn und studierte dann Bühnenbild an der Kunsthochschule Berlin Weißensee. An der FU-Berlin studierte er den weiterbildenden Masterstudiengang Zukunftsforschung.

Maren Geers, geb. 1979, studierte Bühnen und Kostümbild an der Kunsthochschule Berlin-Weissensee und war Meisterschülerin bei Prof. Peter Schubert. Sie war Stipendiatin der Akademie Schloss Solitude und mit ihren freien, installativen Arbeiten in diversen Gruppenausstellungen vertreten.

Im Jahr 2013 wurde Wimmelforschung als Kultur- und Kreativpiloten ausgezeichnet. Der Titel wird jedes Jahr an 32 Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft verliehen.

Interview mit Wimmelforschung

 

Der Text ist ein Auszug aus dem Beitrag „Platform 12 – ein Eingriff ins Gesamtsystem“ aus dem Buch: Lehmann, Ulrike (Hrsg.): Wirtschaft trifft Kunst. Warum Kunst Unternehmen gut tut, Wiesbaden 2017.

Mehr Informationen dazu finden Sie hier.

Credits

Text: Wimmelforschung

Fotos: Robert Bosch GmbH, Wimmelforschung

Anstehende Veranstaltungen

Es gibt derzeit keine bevorstehenden Veranstaltungen.

Credits

Text: Wimmelforschung

Fotos: Robert Bosch GmbH, Wimmelforschung

Wie trägt Kultur- und Kreativwirtschaft zu mehr Kreislaufwirtschaft bei?

Prinzipien aus der Natur abzuschauen hat schon viele Erfindungen hervorgebracht. Insbesondere Kreislaufsysteme der Natur sind Vorbilder für ein nachhaltigeres Leben. Die Umgestaltung unserer Wirtschaft zu einem kreislaufwirtschaftlichen System stellt jedoch eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar, die nur branchenübergreifend und ganzheitlich gelöst werden kann. Im Unterschied zum deutschen Begriff „Kreislaufwirtschaft“, der sich auf den Umgang mit Abfall fokussiert, ist der englische Begriff „Circular Economy“ (also „zirkuläres Wirtschaften“) bereits viel weiter gefasst und betrachtet das gesamte Produktsystem. Hier geht es um durchdachte Kreisläufe von Anfang an, die bereits beim Design von Produkten beginnt.

Innovative Ideen und praktische Ansätze für zirkuläres Wirtschaften finden sich schon seit Jahren in der Kultur- und Kreativwirtschaft, zum Beispiel in der Architektur, im Produkt- und Materialdesign, der Film- und Veranstaltungsindustrie sowie dem Modemarkt. Viele Beispiele werden Sie in diesem Magazinschwerpunkt kennenlernen können

In unserer Kurzreportage zur Kreislaufwirtschaft haben wir diesmal mit Architekt*innen Sandra Düsterhus (Point.Architektur) und Martin Haas (haascookzemmrich) über die Ansätze bei ihren Projekten in der Außen- und Innenarchitektur gesprochen und was der Fokus auf Kreislaufwirtschaft auch für die Gestaltung bedeutet.