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Handfest werden

Was kann die Kultur- und Kreativwirtschaft beitragen zu den drängenden Fragen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft? Das wollen ab Juni rund 30 Akteure der Branche in den Kreativlaboren, den Labs, herausfinden. Im groß angelegten Projekt „Phase XI“ entwickeln sie umsetzbare Prototypen zu Themen wie Mobilität, Internet der Dinge, Bürokratieentwicklung und Diskussionskultur.

„Eigentlich ist mit Kafka und Asterix und Obelix alles zum Thema Bürokratie gesagt, was es zu sagen gibt“, findet Leonie Pichler. Das Dystopische, das Absurde und das ungewollt Komische dieser Welt, mit der wir zwangsweise immer wieder in Kontakt kommen, nur um mit der Frage herauszugehen: Muss das so sein? Muss es nicht, findet Pichler. Dass Bürokratie ganz anders sein kann, menschlicher, besser, logischer, will die Augsburger Theatermacherin in einem neuen Projekt beweisen, das gerade vom Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes gestartet wurde.

„PHASE XI“ heißt das Großvorhaben, ein auf acht Orte – die Labs – verteilter Thinktank, in dem Kreative von Juni bis Oktober konkrete Beiträge zu Zukunftsfragen kreieren sollen. Keine Thesenpapiere, sondern umsetzbare Konzepte, die in einem zügigen Prozess von Forschung und Experiment entwickelt werden. Rapid Prototyping für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.

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„Ich sehe das als ein großes Versuchsbecken, in dem wir ausprobieren, wie wir als Kreativbranche gesellschaftliche Wirkung entfalten können“

Christoph Brosius
Phase XI-Lab „Testmärkte der Zukunft“

„Ich sehe das als ein großes Versuchsbecken, in dem wir ausprobieren können, wie wir als Kreativbranche gesellschaftliche Wirkung entfalten können“, sagt der IT-Unternehmer und Gamification-Experte Christoph Brosius, einer der Fellows des Kompetenzzentrums, der gerade an einem der Konzepte für die elf Themenbereiche arbeitet. „Wir gehen ganz bewusst auch in Bereiche wie ‚Zukunft der Mobilität‘, in denen schon viele starke Akteure unterwegs sind“, sagt Lutz Woellert, Mitgründer der Identitätsstiftung. „Weil wir das aus unserer Praxis kennen, dass da viel nebeneinander her gearbeitet wird und viele Problemlösungskompetenzen gar nicht gesehen werden. Oder dass man Themen den Spezialisten überlässt, anstatt sie als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu sehen.“

Phase XI, Fellowsfrühstück | u-institut, Berlin – 02.05.2017

Matthias Burgbacher und Leonie Pichler entwickeln zusammen mit Andrea Augsten und Julia Wartmann das Lab „Alternativen für Bürokratie“

Mit einer neuen Sichtweise an alte Probleme herangehen und neue Netzwerke bilden: Das will auch Matthias Burgbacher, der Bürgerbeteiligungsprozesse in Städten und Kommunen durchführt. Zusammen mit Leonie Pichler (Bluespots Productions), Andrea Augsten (Initiative design:transfer) und Julia Wartmann (Popmusiknetzwerk „local heroes“) baut er das Lab „Passierschein A11: Alternativen für Bürokratie“ auf. Schon die Zusammensetzung dieses Quartetts ist ungewöhnlich: „Dass wir überhaupt zusammenarbeiten, verdanken wir dem Kompetenzzentrum“, sagt Burgbacher, „die haben uns zusammengesetzt und meinten: Ihr passt gut zusammen.“ War dann auch so: „Ich bin die Arbeit mit städtischen Verwaltungen gewohnt, Leonie befasst sich mit der theatralen Darstellung von Lösungen.“ Andrea und Julia bringen zusätzlich eine anwendungsorientierte und wissenschaftliche Perspektive ein.

Er sieht PHASE XI als Chance, schnell und niederschwellig konkrete Ideen zu erarbeiten. „Das ist ein Gegenmodell zu Akteuren wie der Bundestagskommission Bürokratieabbau – die arbeitet seit fünf Jahren an diesem Thema.“ In einer ersten Forschungsphase werden Pichler und Burgbacher Daten, Erfahrungen und Best-Practice-Beispiele sammeln, durch Verwaltungen touren, mit vielen Menschen auf beiden Seiten des Behördenschreibtisches sprechen. „Warum sind Behördenkontakte so unangenehm? Warum ist die Sprache so entmenschlicht? Was macht das mit den Menschen? Was könnte anders, besser sein?“, fragt Pichler. Umsetzen will sie die Erfahrungen in Form einer Inszenierung am Sitz der wichtigsten deutschen Behörde, des Bundesverfassungsgerichtes. In Karlsruhe sollen Räume angemietet werden, in denen Besucher erst eine dystopische Bürokratiewelt erleben – und dann eine Welt der Möglichkeiten: „Als Besucher möchten wir gerne Menschen haben, die Bürokratie todlangweilig finden und dann erfahren, dass sich ein ungeahnter Raum jenseits von Kafka öffnet.“

Und Ängste nehmen, etwa vor der Digitalisierung: „In vielen Behörden gibt es da Vorbehalte.“ Dabei könnte die Digitalisierung viel dazu beitragen, Behördenhandeln nachvollziehbarer zu machen, meint Pichler: „Wenn durch Digitalisierung Informationen ganz einfach zugänglich sind, wenn Abläufe transparent und nachvollziehbar werden, ist das eine Riesenchance gegen Willkür und Frusterfahrungen. Und das wirkt sich wieder positiv auf die Behördenarbeit aus. Wir wollen den Leuten sagen: Reitet die Welle anstatt Dämme aufzubauen.“

Phase XI, Fellowsfrühstück | u-institut, Berlin – 02.05.2017

Matthias Burgbacher und Leonie Pichler entwickeln zusammen mit Andrea Augsten und Julia Wartmann das Lab „Alternativen für Bürokratie“

Jakob Vicari, Foto: Franz Bischoff

„Daten können eine Geschichte erzählen und Vorurteile widerlegen. Wenn dir zum Beispiel dein Einkaufswagen sagt: Hey, diese Bio-zertifizierte Milch ist gar nicht tierschonender erzeugt worden als die andere.“

Jakob Vicari
Phase XI-Lab „Datatelling“

Eine neue Sichtweise auf die Digitalisierung soll auch im Phase XI-Lab „Datatelling: Zukunftserzählungen nichttechnischer Utopien“ entstehen. Hinter dem eigenwilligen Kunstwort Datatelling steht die Idee, das Thema Datensammlung einmal nicht zu betrachten vor dem Hintergrund der Frage, was Konzerne, was Behörden mit all den Informationen machen, die wir bereitwillig im Netz hinterlassen. Stattdessen kommen in diesem Lab Fellows zusammen, die schon Datensammlungen genutzt haben, um im positiven Sinne Geschichten zu erzählen: Marco Maas, der an Transparenzprojekten wie Lobbyplag beteiligt war und gerade an einem Algorithmus arbeitet, der uns im Netz besser mit Nachrichten versorgen soll. Und Jakob Vicari, der Verbraucher auf subversive Art damit konfrontiert, wie ihre Nahrung erzeugt wird: Er arbeitet mit Live-Daten aus der Tierhaltung, die er in Form automatisch generierter Geschichten auf Displays ausspielen will, die er in Alltagsgegenständen wie Einkaufswagen und Frühstücksbrettchen einbaut. „Daten können eine Geschichte erzählen und Vorurteile widerlegen“, sagt Vicari. „Wenn dir zum Beispiel dein Einkaufswagen sagt: Hey, diese Bio-zertifizierte Milch ist gar nicht tierschonender erzeugt worden als die andere.“

Ein wesentlicher Punkt der Arbeit in den acht Labs ist die Vernetzung mit Akteuren, die schon in den jeweiligen Bereichen unterwegs sind. Zum Beispiel das Marktforschungsunternehmen GfK, mit dem Christoph Brosius im Lab „Testmärkte der Zukunft“ kooperieren möchte. Sitz des Projekts wird Haßloch, seit Jahrzehnten Lieblingsort aller Marktforscher, weil diese Gemeinde wie kaum eine andere den deutschen Bevölkerungsdurchschnitt repräsentiert. „Wir leihen uns die Versuchsanordnung in Haßloch aus – aber wir stellen eine andere Frage“, sagt Brosius, der das Lab zusammen mit Antje Eichhorn und dem Journalismus-Startup Chapter One aufbaut.

„Anstatt zu erforschen, mit welcher Marketingstrategie sich ein Produkt bestmöglich absetzen lässt, wollen wir wissen, ob der Konsum eines Produktes Rückschlüsse auf die Einstellungen und Werthaltungen der ‚durchschnittsdeutschen‘ Konsumenten ermöglicht.“

Matthias Leitner, Foto: Matthias Kestel

„Wir wollen nicht mit einer Phalanx von Beratern einfallen, die den Leuten dann Konzepte aufdrücken, die gar nicht funktionieren“

Matthias Leitner
Phase XI-Lab „Creative Landscapes - Zukunft des ländlichen Raums“

Wichtig ist auch die regionale Vernetzung, zum Beispiel im Lab „Creative Landscaping – Zukunft des ländlichen Raums“: Hier wird der Journalist und Theatermacher Matthias Leitner mit dem Zürcher Alpinisten und Philosophieprofessor und Bergführer Jens Badura zusammenarbeiten. Zusammen wollen sie erforschen, wie man ein anderes Bild vom Alpenraum und seiner Zukunft zeichnen kann als die Postkartenidylle, die Tourismusverbände so lieben. Und das zusammen mit den Menschen vor Ort: „Wir wollen nicht, wie es sonst oft auf dem Land passiert, mit einer Phalanx von Beratern einfallen, die den Leuten dann Konzepte aufdrücken wollen, die da gar nicht funktionieren“, sagt Leitner, der als Sohn von Hüttenwirten selbst in der Alpinregion groß geworden ist und weiß, wie diese besondere Landschaft die Menschen prägt. „Die Kombination von Berg und Tal, dieses landschaftliche Extrem, führt auch zu Extremen in den Charakteren. Diese Mentalität muss man kennen.“

Das Projekt PHASE XI ist streng getaktet, der Vorarbeit in den Themenfeldern folgte am 13. Juni ein erster übergreifender Workshop in Berlin, auf dem Teams sich gegenseitig ihre Projektskizzen vorgestellt, diskutiert und auf Vernetzungsmöglichkeiten abgeklopft haben.

Jetzt startet die eigentliche Aufbauarbeit in den Labs, die wöchentlich dokumentiert wird auf der Projektsite http://logbuch-phase-elf.de/. Eine erste Werkschau findet im Juli statt, wenn das Kompetenzzentrum drei „Learning Journeys“ organisiert, bei denen sich alle Labs vorstellen können. Um es mit Leonie Pichler zu sagen: „Ich hätte gern, dass die Besucher am Ende da rausgehen und sich auf die Zukunft freuen.“

Credits

Text: Georg Dahm

Fotos: William Veder; Fabian Brennecke; Franz Bischoff; Matthias Kestel

Anstehende Veranstaltungen

Es gibt derzeit keine bevorstehenden Veranstaltungen.

Credits

Text: Georg Dahm

Fotos: William Veder; Fabian Brennecke; Franz Bischoff; Matthias Kestel

Wie trägt Kultur- und Kreativwirtschaft zu mehr Kreislaufwirtschaft bei?

Prinzipien aus der Natur abzuschauen hat schon viele Erfindungen hervorgebracht. Insbesondere Kreislaufsysteme der Natur sind Vorbilder für ein nachhaltigeres Leben. Die Umgestaltung unserer Wirtschaft zu einem kreislaufwirtschaftlichen System stellt jedoch eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar, die nur branchenübergreifend und ganzheitlich gelöst werden kann. Im Unterschied zum deutschen Begriff „Kreislaufwirtschaft“, der sich auf den Umgang mit Abfall fokussiert, ist der englische Begriff „Circular Economy“ (also „zirkuläres Wirtschaften“) bereits viel weiter gefasst und betrachtet das gesamte Produktsystem. Hier geht es um durchdachte Kreisläufe von Anfang an, die bereits beim Design von Produkten beginnt.

Innovative Ideen und praktische Ansätze für zirkuläres Wirtschaften finden sich schon seit Jahren in der Kultur- und Kreativwirtschaft, zum Beispiel in der Architektur, im Produkt- und Materialdesign, der Film- und Veranstaltungsindustrie sowie dem Modemarkt. Viele Beispiele werden Sie in diesem Magazinschwerpunkt kennenlernen können

In unserer Kurzreportage zur Kreislaufwirtschaft haben wir diesmal mit Architekt*innen Sandra Düsterhus (Point.Architektur) und Martin Haas (haascookzemmrich) über die Ansätze bei ihren Projekten in der Außen- und Innenarchitektur gesprochen und was der Fokus auf Kreislaufwirtschaft auch für die Gestaltung bedeutet.