RFWCS Credits Illustrationen: EL BOUM und Cila Yakecã

Ein kostenloser Obstkorb wird nicht reichen

Fachkräfte of Color werden weiterhin gesucht. Warum die kreative Digitalbranche bei der Suche auf die falschen Benefits setzt, erläutert UX-Designerin Victoria Kure-Wu in ihrem Gastbeitrag (ursprünglich erschienen im Buch "Racialised Faces in white Creative Spaces").

Eine Schwarze und ostasiatische Frau lächeln mich auf einem gesponsorten Post auf Instagram an. Sie sitzen hinter silbernen Monitoren an einem weißen Schreibtisch und haben kostenloses Obst, frischen Kaffee und eine Menge Spaß auf der Arbeit. Ihre Kreativ-Agentur wirbt mit ihnen: „Wir suchen Unterstützung – Komm in unser Team!“. Dieser Satz überzeugt mich nicht. Die Repräsentation einer Asian Woman of Color motiviert mich immerhin für einen weiteren Klick. Ich schaue mir das Büro an. Unter „Über uns“ finde ich das, was ich erwartet habe: Statt den abgebildeten Personen auf den Fotos, sehe ich eine zu 100% weiße Besetzung des Teams. Die Rückwärts-Bilder-Suche von Google spuckt mir das originale Stockfoto in seiner Bilddatenbank aus. Die Schlagworte sind #Work, #Office, #Diversity und #Team.

Herausforderung Fachkräftemangel

Nicht-weiße und marginalisierte Personen sind willkommen in den Büros der wachsenden deutschen Digitalbranche. Wenn sie besser als die*der Personaler*in deutsch sprechen und hinter alle in der Jobbeschreibung geforderten Fähigkeiten einen Haken machen können, dürfen sie an den weißen Gatekeeper*innen vorbei und werden ins operative Team aufgenommen. Außer sie heißen „Wu“ oder „Yu“. Dann scheitern sie schon am digitalen Bewerbungsformular. Der typisch deutsche Error: „Bitte geben Sie mindestens 3 Zeichen ein“.

Der Markt ist leergefegt. Es fehlt an Entwickler*innen, Product Owner*innen und Designer*innen in der digitalen Kreativbranche. Büros versuchen auf verschiedenen Wegen, Fachkräfte für sich zu gewinnen. Der Diversity-Day wird jährlich mit Stockfotos auf Social Media gefeiert oder das eigene Logo wird zum Christopher Street Day in eine Regenbogenflagge getaucht.

Was war nochmal Diversity?

Elisabeth Gregull unterscheidet in ihrem Artikel „Migration und Diversity“, erschienen 2018 im Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung, zwei verschiedene Diversity-Ansätze. Der erste ist aus der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA und politischen Kämpfen der Frauen-, Schwulen-, Lesben- und Behindertenbewegung hervorgegangen. Er ist menschenrechtsbasiert und zielt auf Chancengleichheit und dem Abbau von Diskriminierung. Der zweite Diversity-Ansatz hat einen betriebswirtschaftlichen Hintergrund: Auch er entstand in den USA. Allerdings dient die Vielfalt von Mitarbeiter*innen hier unternehmerischen Zielen. In Deutschland wirbt die Wirtschaftsinitiative „Charta der Vielfalt“ für den zweiten Ansatz. Die Charta der Vielfalt feierte im Mai 2022 das 10-jährige Jubiläum des „Deutschen Diversity- Tages“ mit dem Hashtag #Vielfaltverbindet und dem Motto „Let’s celebrate Diversity“.

Fachkräfte of Color weiterhin gesucht

Ein Unternehmen generiert Gewinn, wenn es für seine Auftragsnachfrage genug Fachkräfte anstellen und beschäftigen kann. Braucht die Kreativindustrie Menschen wie mich in 20 Jahren noch? Werden sie weiterhin statt mit weißen, grauhaarigen Männern mit Women of Color für Fachkräfte werben? Die Nielsen Norman Group ist eine amerikanische Beratungsfirma zu den Themenbereichen User Interface und User Experience. Frei verfügbare Artikel der Nielsen Norman Group ermöglichten mir kostenloses Fachwissen während meines Werdegangs als User Experience Designerin. User Experience Design gab es nach meinem Abitur 2006 weder als Studiengang noch als Ausbildungsberuf. In dem Artikel „A 100-Year View of User Experience“ gibt die Nielsen Norman Group eine Prognose über die weltweite Nachfrage nach dem Beruf User Experience Design. Das Aufkommen von Personal Computern in den 1980ern, die vermehrten Interaktionsmöglichkeiten auf Websites ab den 1990ern und die bis heute wachsende Anerkennung der fachlichen Expertise von UserExperience Design sind verantwortlich für die steigende Nachfrage nach User Experience Designer*innen. Diese Entwicklungen ermöglichten mir die letzten Jahre ein sicheres Einkommen. Als Woman of Color kann ich es mir sogar leisten, statt Vollzeit nur Teilzeit zu arbeiten, um mich freitags unbezahltem Aktivismus widmen zu können.

Nach meinem Studienabschluss im Fach Kommunikationsdesign folgten schlecht bezahlte Praktika und mit Mindestlohn bezahlte Traineeships in Berlin. Nach 10 Jahren die gute Nachricht: Die Büros wollen mich. Recruiter*innen fragen mich täglich auf LinkedIn an. Sie scheinen so viele Anfragen zu verschicken, dass sie nicht einmal meinen Namen korrekt kopieren und einfügen können. Kreativ-Büros müssen selber kreativ werden, um Mitarbeitende für sich zu gewinnen. Da nimmt man für Social Media Posts neben der Fußball-WM auch mal den Diversity-Tag, Christopher Street Day mit. Sie wollen nicht mehr nur den Peter Müller, sondern brauchen auch eine Victoria Kure-Wu.

Stockfotos schützen Mitarbeiter*innen nicht vor Diskriminierung

Diversitiy-Kampagnen – nach außen hin, schön und gut. Stockfotos sichern mir als Woman of Color nur leider keinen diskriminierungsfreien Arbeitsplatz. Und den brauche ich, um mich 9 Stunden am Tag an einem Ort wohlfühlen zu können. Mein letztes Büro habe ich verlassen, weil mein damaliger Chef einen Text von mir als „Deutschtest Kure-Wu“ mit Rotstift betitelt hat. Vermeintliche Fehler, die keine waren, hat er wie in einer Klassenarbeit rot markiert. Diesen „Spaß“ hat er in den Büro-öffentlichen Channel mit den Worten „6, setzen“ gepostet. Das war in keinem kapitalistischen Großunternehmen. Das war in einem Büro, das nach eigener Aussage „für die gute Sache“, wie zum Beispiel NGOs gearbeitet hat. In einem anderen Büro wurden Stockbilder mit Ostasiat*innen als Idee für die Kund*innen besprochen. Ein Teamkollege fragte mich „aus Spaß“: „Kennst du die?“. Die Aufzählung erniedrigender Vorfälle, die die träge Bürostimmung auf meine Kosten heben sollte, könnte ich lange fortführen. Es soll hier aber nicht um Betroffenheits-Ausbeutung am Arbeitsplatz gehen.

Rassistische Mikroaggressionen sind für mich als Woman of Color eine Frage der Zeit, obwohl mich genau diese neuen Kolleg*innen eigentlich besonders als Woman of Color herzlich willkommen geheißen haben. Wenn überhaupt etwas auf rassistische Mikroaggressionen folgt, dann sind es energiezehrende Gespräche, in denen betont wird, dass etwas „nicht so gemeint“ war, white tears oder eine Kündigung meinerseits. Die meisten Büros haben nicht einmal Ansprechpersonen, um rassistische Vorfälle in einer sicheren Atmosphäre besprechen zu können. Was bringt Diversity auf Stockfotos, wenn Schwarze und People of Color in der Firma keine Ruhe vor rassistischen und diskriminierenden Sprüchen haben? Dies lässt sich auch auf andere Diskriminierungsformen hinterfragen: Was bringen Inklusionskampagnen, wenn der Arbeitsplatz weder barrierefrei zugänglich ist, noch flexible Arbeitszeiten ermöglicht werden? Was bringt eine Regenbogenfahne, wenn bei der nächsten Weihnachtsfeier queerfeindliche „Witze“ fallen und auch die Personaler*innen mitlachen?

Ein echter Benefit

Wer mich als Fachkraft haben und halten will, sollte in ein diskriminierungsfreies Unternehmen investieren. Unternehmen könnten Anti-Diskriminierungs-Workshops besuchen, sich selber und ihre Mitarbeiter*innen in Punkto Sensibilität weiterbilden oder offizielle Ansprechpersonen für Personen, die von Diskriminierungsformen betroffen sind, bereitstellen. Das Internet ist voll von Kollektiven und Einzelpersonen, die für eine professionelle Beratung zum Thema Gleichberechtigung und Diskriminierung am Arbeitsplatz in Anspruch genommen werden können. Den Benefit eines diskriminierungsfreien und rassismuskritischen Arbeitsplatzes habe ich innerhalb meiner Branche auf Instagram jedenfalls noch nie gesehen. Das wäre mal ein echter und überzeugender USP (Unique Selling Proposition oder Unique Selling Point, deutsch Alleinstellungsmerkmal). Ein kostenloser Obstkorb reicht mir jedenfalls nicht.


Literaturverzeichnis:

Gregull, E. (2018, 14. Mai). Migration und Diversity. Bundeszentrale für politische Bildung. Abgerufen am 13. Juni 2022, von https://www.bpb.de/themen/migration-integration/dossier-migration/223777/migration-und-diversity/

Nielsen, J. N. (2017, 24. Dezember). A 100-Year View of User Experience. Nielsen Norman Group. Abgerufen am 13. Juni 2022, von https://www. nngroup.com/articles/100-years-ux/

Credits

Text: Victoria Kure-Wu, Usability und User Experience Design

Fotos: Illustration: EL BOUM und Cila Yakecã

Anstehende Veranstaltungen

  1. Panel „Zukunft Fachkräftesicherung“

    27. November

Credits

Text: Victoria Kure-Wu, Usability und User Experience Design

Fotos: Illustration: EL BOUM und Cila Yakecã

Künstliche Intelligenz als Werkzeug von Kreativen

Die fortschreitende Digitalisierung verändert tiefgreifend, wie wir leben, arbeiten und auch politisch partizipieren. Eine der großen Herausforderungen unserer Zeit ist, sowohl die politische Teilhabe zu stärken als auch die Demokratie vor digitalen Bedrohungen zu schützen.

Durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz wird beispielsweise kreative Teilhabe für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich, indem komplexe Werkzeuge und Techniken auch ohne tiefe Fachkenntnisse genutzt werden können. KI ermöglicht es Menschen aus verschiedenen Hintergründen, ihre kreativen Ideen zu verwirklichen und neue Formen der künstlerischen Zusammenarbeit zu erkunden. Das fördert die Vielfalt und Innovation in der kreativen Landschaft. Gleichzeitig stellt diese Entwicklung die traditionellen Vorstellungen von Urheberschaft und Originalität infrage, da KI-gestützte Kreativität zunehmend die Grenze zwischen menschlicher und maschineller Schöpfung verwischt.

Auch die Fragen, was Kreativität bedeutet und wo die Kernkompetenzen der Kreativschaffenden liegen, werden an Wichtigkeit gewinnen und ihre Antworten sowohl Herausforderungen als auch Chancen mit sich bringen. KI ist auf dem heutigen Stand eher nicht „kreativ“ – aber sie verändert kreative Prozesse. Sie kann Kreativschaffende in ihrer Kreativleistung unterstützen, sie erweitern und als Inspirationsquelle dienen.

In unserer Kurzreportage sprechen wir mit den Künstlern Julian van Dieken und Roman Lipski über das Potenzial von KI als künstlerische Muse und Werkzeug, das neue Zugänge und Innovationsprozesse ermöglicht.