Der Sommer legt zum ersten Mal seit Wochen eine Pause ein. Im Kuppelsaal der Jägerstraße steht trotzdem die Luft, das Publikum auch. Knapp 50 Menschen pressen sich in den Saal, in den das Frou Frou in den 20er Jahren zu seinem Weinkabarett lud. Heute sei es Berlins „intimster Salon“, sagt Christoph Backes, Leiter des Kompetenzzentrums Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes. Wäre man an diesem Nachmittag zufällig hier, könnte man sich an einer dieser Taktikanalysen nach einem Fußballspiel erinnert fühlen. Man spricht über Schnittstellen, neue Räume, eine andere Ansprache. Dabei geht es an diesem Nachmittag um die Zukunft der Kultur- und Kreativwirtschaft. Backes‘ Kompetenzzentrum gewährt einen Einblick in die Zusammenarbeit mit seinem neuen Forschungspartner, dem Research Venture CreativeEconomies aus der Schweiz, eine Kooperation der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und der Universität St. Gallen (HSG).

Schnittstelle zur Zukunft
Auf dem Podium sitzen deshalb Christoph Weckerle und Simon Grand.
Weckerle von der ZHdK forscht seit Jahren im Bereich Kulturpolitik und Creative Economies, etwa für den Schweizerische Nationalfonds oder der Europarat. Grand ist Gründer des RISE Management Innovation Lab der HSG, firmiert als Managementforscher, Wissensunternehmer und Strategiedesigner. Sie sollen aus ihrer laufenden Forschung zur Kultur- und Kreativwirtschaft erzählen. Die Frage, die beide antreibt: „Wie agieren kreative Unternehmungen an der Schnittstelle zwischen Gegenwart und Zukunft.“
Stilbildend und einzigartig
Sie beginnen ihre Präsentation mit einem Satz, der auch von Jogi Löw nach der deutschen Niederlage bei der WM gegen Mexiko so überliefert ist: „Wir machen genau das, was wir eigentlich nicht machen wollten.“ Von der Schweiz aus auf den deutschen Kreativbetrieb zu schauen, diesen Eindruck hätten die beiden Wissenschaftler nun wirklich vermeiden wollen. Und doch und gerade gehe es ja genau darum, „neue, andere Perspektiven zu finden und einzunehmen“, sagt Weckerle. Und überhaupt, sei das Kompetenzzentrum führend und stilbildend und deshalb ein ziemlich einzigartiger Ort zur Erforschung der Kreativwirtschaft.

Wir müssen die Kultur- und Kreativwirtschaft fühlbarer und erlebbarer machen. Genau deshalb wollen wir das Thema auf Bundesebene weiter vorantreiben. Immerhin haben wir uns im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, die Kreativwirtschaft zu stärken, vor allem im Bereich der Innovation und des Exports.
Die deutsche Initiative gibt es nun seit elf Jahren, und bislang hat sich die Branche in Deutschland in elf Teilmärkte unterschieden, nur entstehe Kreation, sagt Weckerle, immer wieder an den Schnittstellen zwischen diesen Teilbranchen. Die Ränder sind also unscharf und permanent gibt es Überschneidungen mit anderen Feldern wie Technologie, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. „Mit dem Korsett einer abgeschlossenen Branchenlogik kommen wir da nicht weit“, sagt auch Bernd-Wolfgang Weismann, der das Referat Kultur- und Kreativwirtschaft im Bundeswirtschaftsministerium leitet und schon ein wenig damit hadert, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft nicht die Aufmerksamkeit abbekomme wie die Tech-Szene. „Wir stehen noch am Anfang, wenn es darum geht, den Mehrwert der Kreativwirtschaft für andere wirtschaftliche und gesellschaftliche Bereiche zu erklären und politisch zu unterstützen.“ Und das sei nicht nur ein Kommunikationsproblem, sondern auch ein Verständnisproblem. „Wir müssen die Kultur- und Kreativwirtschaft fühlbarer und erlebbarer machen. Genau deshalb wollen wir das Thema auf Bundesebene weiter vorantreiben. Immerhin haben wir uns im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, die Kreativwirtschaft zu stärken, vor allem im Bereich der Innovation und des Exports“, sagt Weismann.
Auch Weckerle und Grand sind überzeugt, dass die in Europa verbreitete Teilmarktlogik dringend renoviert und etwa durch ihr „Wertschöpfungsmodell“ erweitert werden müsse, weil sonst „wesentliche Wirkzusammenhänge verpasst werden“, sagt Simon Grand. „Im Zentrum steht ein Oszillieren zwischen der Welt, wie sie ist und der Welt, wie sie sein könnte, nur, dass die Zukunft nun mal die Eigenschaft besitze, noch nicht stattgefunden zu haben.“
Experiment und Abenteuer
Menschen sind nun mal nicht so gut darin, Dinge aus morgiger Sicht betrachten zu können. Nur, und das ist die Hypothese von Grand und Weckerle, scheinen sich Kreative in der Schnittstelle zwischen heute und morgen wohler zu fühlen als andere. „What if?“ ist dabei die zentrale Frage. Was wäre wenn? „Sie lädt zu Experimenten und Abenteuern ein. Ausgang offen. Die Antwort auf die Frage suchen die Wissenschaftler nicht im Elfenbeinturm, sondern an den unterschiedlichsten Orten der Kreation – Research Labs, unternehmerische Ventures, soziale Bewegungen. „Genau dort entstehen Werte“, sagt Grand. Aber welche, für wen, wo und auf welche Art und Weise? „Wir wollen Innovation nicht länger als Black Box verklären, sondern endlich differenzieren. Und dafür müssen wir den Kontext schaffen.“
So wie im vergangenen Jahr mit dem Programm PHASE XI, ein auf acht Labs verteilter Thinktank, in dem Kreative konkrete Ideen für die großen Zukunftsfragen kreieren sollten. Keine Thesenpapiere, sondern umsetzbare Prototypen für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. „Initiativen wie die PHASE XI bieten die Gelegenheit zur Umsetzung von Risky Projects, also von Projekten, deren Ausgang nicht schon im Voraus feststeht, die somit den Kern der Kultur- und Kreativwirtschaft berühren“, sagt Weckerle.
Ein Versuchsbecken der Schweizer Forscher ist die Bodensee-Region, beziehungsweise die Gegend zwischen Tübingen und Zürich. Die Region Europas mit der höchsten Hochschuldichte und schon deshalb international, weil sie sich über vier Länder breit macht. 310.000 Kreative arbeiten hier, kreative Festangestellte mitgezählt. „Wenn das eine Stadt wäre, dann wäre da eine Creative City“, sagt Weckerle.
Kreative Wertschöpfung
Mit Real Time-Karten wollen Weckerle und Grand zeigen, in welchen Räumen sich diese Menschen begegnen, hoffen, so Zusammenhänge zu erkennen. „Es geht darum, die kreative Wertschöpfung sichtbar zu machen. Und zwar genau an diesen Schnittstellen“, sagt Janine Schiller, die das Projekt vor Ort betreut.
Das allerdings laufe noch bis Ende des Jahres, für konkrete Ergebnisse sei es noch zu früh.
Vielleicht wissen die Forscher Ende Oktober, wenn das Kompetenzzentrum zu einer internationalen Fachtagung nach Berlin lädt, schon mehr. Viele der von ihnen untersuchten Kreativunternehmungen hätten aber gemein, dass sie zur Wertschöpfung in der Region beitragen, eine eigene Geschichte haben, die geprägt ist von der Region, dass ihre Projekte von der Haltung ihrer Gründer leben und eine Verbindung zwischen Kultur, Wissenschaft, Technologie und Bildung schaffen.
Wer die Bedingungen erforscht, unter denen Kreative erfolgreich sind, der gelangt fast zwangsläufig auch zu der Frage, ob und wie sich Kreation systematisch steuern lässt. Welche Spielregeln braucht es dafür? Welche Förderstrategien sind sinnvoll und möglich? „Wie kann die Politik einen Rahmen setzen, in dem Kreative die Zukunft entwerfen und gestalten und dabei die Unsicherheit und Komplexität so ernst nehmen, dass wir über das Selbstverständliche und Bekannte hinausgehen können?“, fragt Grand.

Die Elemente eines neuen Selbstverständnis sind die Schnittstellen- und Innovationspotenziale der Kultur- und Kreativwirtschaft. Da haben wir den anderen Branchen seit Jahren etwas voraus.“
Ein neues Selbstverständnis
Mit der Gießkanne zu subventionieren oder zu regulieren – diese herkömmlichen Instrumente der staatlichen Förderung reichen offenbar nicht aus, um den Wert der Kreativwirtschaft für eine Gesellschaft zu vermitteln. „Wir brauchen Experimentierfelder, auf denen Kreative Abenteuer wagen können, deren Ausgang sich gerade nicht vorhersehen lässt“, sagt Weismann. „Wir brauchen ein neues Selbstverständnis“, sagt auch Carolin Paulus von Creative NRW. „Nur sollte es dabei nicht nur um Wertschöpfung gehen, sondern vor allem darum, die Wertschätzung für die Branche zu steigern.“ Auch Angelika Neubauer, Referentin am Ministerium für Wirtschaft und Digitalisierung des Landes Sachsen-Anhalt begrüßt eine neue Sichtweise: „Das ist gut, um die spannenden Entwicklungen gerade zwischen den Teilbranchen in den Fokus zu rücken“.
Dazu könne ein zeitweises Verlassen der strikten Teilbranchenzuordnung ein Weg sein, der neue, zukunftsrelevante Ansätze und Sichtweisen ermögliche. Auch in Bezug auf andere Wirtschaftsbranchen, für die das Verwischen klar definierter Branchenzuordnungen ebenfalls relevant werde.
„Die Elemente eines neuen Selbstverständnisses sind die Schnittstellen- und Innovationspotenziale der Kultur- und Kreativwirtschaft“, betont Jürgen Enninger vom Kompetenzteam der Landeshauptstadt München. „Da haben wir den anderen Branchen seit Jahren etwas voraus.“
Das Gespräch wird bereits am 30. Oktober 2018 bei der internationalen Fachkonferenz im Bundeswirtschaftsministerium fortgeführt. „Bei der Fachkonferenz werden wir die europäischen Trends betrachten“, erklärt Bernd-Wolfgang Weismann. „Der Fachtag heute bietet hierfür den idealen Auftakt, um gemeinsam mit der Bundesregierung und den Ländern eine neue Agenda für die Kultur- und Kreativwirtschaft zu entwickeln.“
Credits
Text: Marcus Pfeil, Chapter One
Fotos: William Veder