Gustav J. ist Rentner, 84 Jahre alt. Er lebt in Berlin, in Schöneberg. Im April wollte er einen neuen Ausweis beantragen. Zehn Wochen musste er warten, bis er bei seinem Bürgeramt Tempelhof-Schöneberg einen Termin bekam. Auf seinen Ausweis wartet er bis heute. Dafür erreichte ihn neulich schon ein Schreiben mit „Sicherheitshinweisen“, „Rubbelfeldern“ und dem Sperrkennwort „Konzeptkunst.“ (aus Tagesspiegel Checkpoint)
Verwaltungs-Erasmus und Zwischenflächenfinder
Was sich nach einem Kunstprojekt anhört, ‚dit is Berlin‘ und leider wahr. Und nicht nur in der Hauptstadt keine Ausnahme. Die Beziehung zwischen Bürger und Bürgerbeamten ist schwer belastet, und diesbezüglich mutet ein Workshop mit dem Arbeitstitel „Creative Bureaucracy“ fast ein wenig zynisch an. Zumindest für jemand wie Gustav J. Sowas gab es ja noch nie.
Gab es jetzt aber doch. Am 4. Juli in Heidelberg. Das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes, der Arbeitskreis Open Government Partnership und die Stabsstelle für Digitalisierung des Innenministeriums Baden-Württemberg hatten ausgewählte Experten geladen, um sich über die Herausforderungen und Chancen der Öffentlichen Verwaltung auszutauschen. Denn längst dämmert es auf allen Ebenen in der Verwaltung, dass die Engpässe in Standesämtern, Schulen und Baubehörden nur Vorboten einer noch größeren Verwaltungskrise sind, deren Folgen wir kaum abschätzen können. Und schwindet mit der Unzufriedenheit über die Bürokratie das Vertrauen in die Demokratie, wuchert aus einer verrottenden Verwaltung nicht der Populismus? „Europäische Bürokratie, wie sie aktuell praktiziert wird, steht unter enormem Druck, da sie Innovation bisher meistens eher hemmt“, sagt Publizist und Städteforscher Charles Landry. warum sonst entwickelten sich in Europa zunehmend dritte Kräfte, neue Bürgerbewegungen. „Weil die Menschen ernst genommen werden möchten. Dies macht die kreative Bürokratie so wichtig!“
„Dass Verwaltung per se nicht scheitern darf, ist ein Problem. Weil sonst das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen beschädigt würde. Wenn Verwaltung aber schnell scheitern dürfte, würde so ein Desaster wie der BER nie passieren.“
Also auf nach Heidelberg. Treffpunkt das Dezernat 16, einen Steinwurf vom Hauptbahnhof entfernt. Sieht anders aus als es klingt. Die alte Feuerwache ist Brutstätte für Heidelbergs Kultur- und Kreativwirtschaft. Heute arbeiten auf den 3.000 Quadratmetern über 100 Unternehmen und Selbständige aus allen Branchen der Kreativwirtschaft. „Ein Möglichkeitsraum, in dem Menschen zueinander finden sollen, die eigentlich nicht zusammengehören“, sagt Matthias Burgbacher von PLAN:KOOPERATIV, selber Mieter in der Feuerwache sowie Impulsgeber und Teil des Teams aus Kreativen, die den Workshoptag gestalten.
Der Auftrag für den Tag? Antworten auf Fragen finden wie die Öffentliche Verwaltung in Zeiten digitalen und gesellschaftlichen Wandels ein effizienter und verlässlicher Partner von Wirtschaft und Gesellschaft sein und Innovationen vorantreiben kann und welche Rolle die Kultur- und Kreativwirtschaft dabei spielt. Herauskommen sollen dabei konkrete Prototypen, die Kommunen und Gemeinden bei der Transformation unterstützen.
Eine unlösbare Aufgabe? Vielleicht, doch die Blaupause liefert Burgbacher selbst – mit dem Amt für unlösbare Aufgaben. Eben ein solcher Prototyp, den der Stadtentwickler und Soziologe 2017 zusammen mit Leonie Pichler, Julia Wartmann und Lilia Kleemann im Auftrag des Kompetenzzentrums Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes organisiert hat. In nur sechs Wochen haben die vier elf Alternativen für bürokratische Routinen entwickelt.
Anders als Burgbacher und seine Mitstreiter haben die 26 Teilnehmer allerdings nur drei Stunden Zeit für ihre Prototypen. Aber mal schauen, was geht!
Immerhin waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops beim Ausgangsszenario schnell einig, das Bild über die Zukunft der öffentlichen Verwaltung gleich scharf gezeichnet: Mehr Aufgaben, weniger Geld, Überforderung oder die Suche nach einem neuen Selbstverständnis, wenn die einfachen Verwaltungsvorgänge wie die Anmeldung und einen Führerschein beantragen schon bald automatisiert sind. Und vor allem das Problem, guten Nachwuchs für einen Job in einer Behörde zu begeistern. Schon heute finden sich nicht genug Richterinnen, Pfleger und Feuerwehrfrauen. Und wir reden über einen Mitarbeiterstamm, der überaltert ist. Was damit gemeint ist, belegen Zahlen aus Berlin, auch in diesem Punkt ist es nirgends schlechter im Land: In nur sieben Jahren geht jeder vierte Mitarbeiter in Rente. Wenn Berlin heute von 100.000 Mitarbeitern im Landes- und Bezirksdienst auf 120.000 wachsen will, sucht das Land nicht 20.000 neue Kollegen, sondern 50.000.
Ein Problem, gegen das der BER eine Kleinbaustelle scheint. Apropos BER, und das ist noch so eine Erkenntnis von diesem Nachmittag: „Dass Verwaltung per se nicht scheitern darf, ist ein Problem“, sagt Matthias Weinhold von politics for tomorrow. „Weil sonst das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen beschädigt würde. Wenn Verwaltung aber schnell scheitern dürfte, würde so ein Desaster wie der BER nie passieren.“ Weinhold ist auf Schnelles Scheitern spezialisiert. Er ist Design Thinking-Experte, so etwas wie die neue Religion auf dem Weg zu Innovation. Im Dezernat 16 hat er nicht viel Zeit, weist die Teilnehmer in die Methode ein, nach der Menschen bunt zusammengewürfelt werden. Jeder kommt so aus seinem Silo raus, das Team darf in kurzer Zeit zusammen überlaufen vor Ideen. Hoffentlich guten. Kritik, die nicht konstruktiv ist, ist verboten. Im Laufe des Prozesses entscheidet sich jedes Team für die beste Idee und baut dafür einen Prototypen, den es sogleich von potenziellen Nutzern testen lässt. Mit jedem Feedback wird nachgebessert.
Vier konkrete Problemstellungen kleben zehn Minuten später an den fliegenden Pin-Wänden in der alten Feuerwache:
- Wie können wir effizienter junge Mitarbeiter für die Öffentliche Verwaltung (ÖV) gewinnen?
- Wie kann die ÖV besser von der Arbeit der Kultur- und Kreativwirtschaft profitieren?
- Wie können wir die ÖV dazu befähigen und ihr die Kompetenz verschaffen, schnell, effektiv und rechtzeitig zu erkennen für welche ÖV-Projekte sich eine Zusammenarbeit mit der KKW lohnt?
- Wie können wir die ÖV attraktiver machen für Mitarbeiter?
Eine halbe Stunde hat jede Gruppe Zeit für ihren Prototypen. Es wird gemalt, gebastelt, Rollenspiele einstudiert, mit Lego gebaut. Am späten Nachmittag fällt der Vorhang und zum Vorschein kommen:
1) Der Mannschaftsbus
Fährt bei Unis und Berufsschulen vor, ködert potenzielle Absolventinnen und Absolventen mit Kaffee und Kaltgetränken und lässt sie spannende Aufgaben aus dem richtigen Verwaltungsleben mit echten Kollegen lösen. „Ein Test in Echtzeit für beide Seiten“, sagt Norbert Krause von Krauses Projektdesign.
2) ‚Das‘ Zwischenflächenfinder
Ein Portal, das Kreative, die eine Fläche zur Zwischennutzung suchen, Eigentümer, die ein Objekt vorübergehend vermieten wollen und die zuständigen Mitarbeiter im Bauamt, die zwischen beiden Seiten und den Anwohner vermitteln, zusammenbringt. Mit Filtern nach Dauer, Art der Nutzung oder dem Lärmpegel. „Wir glauben, dass Kreative und die zuständigen Mitarbeiter so schneller und gezielter zueinander finden“, sagt Nora Fanderl von Fraunhofer IAO.
3) Verwaltungserasmus für Bürgerbeamte
Die Mitarbeiter der ÖV verlegen einmal pro Woche ihren Arbeitsplatz in ein Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft, erweitern so ihren Blickwinkel und lernen die Arbeitsmethoden der Kreativfirmen, um hinterher besser entscheiden zu können, ob und wann eine Zusammenarbeit Sinn stiftet und wann nicht. „Wir hoffen, mit diesem Ansatz die Eintrittsschwelle zwischen beiden Seiten zu senken und dass das Erleben der Kultur- und Kreativwirtschaft auch noch Spaß bereitet. Zudem dürfte die Umsetzung den Steuerzahler so gut wie nichts kosten“, sagt Robert Mucha von der HANIX Media GbR.
4) Community Manager für den Verwaltungsapparat
Erhältlich derzeit zwar nur als Lego-Bausatz, aber durchaus ins reale Verwaltungsleben skalierbar. Bedient bei einem gut laufenden Co-Workingspace stellt die Lego-Gemeinde einen Community-Manager ein, eine Art Sous-Chef innerhalb der ÖV. Ein kommunikatives Multitalent, das die richtigen Leute zur richtigen Zeit am richtigen Ort zusammenbringt und Gemeinsamkeit (an)stiftet. Für ein neues Großprojekt oder auch nur zu einem gemeinsamen Kochen.
Methodisch ist diese Art der gemeinsamen Ideen- und Lösungsentwicklung schon sehr inspirierend.
Unterm Strich keine schlechte Ausbeute für einen Nachmittag. Und ermutigend für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor allem aus der ÖV: „Als regionaler Wirtschaftsförderer habe ich ja schon einige Unternehmen von innen gesehen“, sagt Florian Nader, von der Stadt Heilbronn. „Aber ein richtiges Austauschprogramm, das wäre noch mal etwas völlig anderes.“ Methodisch sei diese Art der gemeinsamen Ideen- und Lösungsentwicklung schon sehr inspirierend, sagt Ellen Koban von der Stabsstelle Kultur- und Kreativwirtschaft der Stadt Heidelberg. „Es liegt nun an jedem von uns selbst, ob wir mit den Ideen und Prototypen etwas anfangen.“
Die wichtigste Erkenntnis dabei: Man muss nicht immer gleich den großen Tanker in eine neue Richtung lenken, es reicht, erstmal ein Beiboot loszuschicken. Nur bedingt das für die meisten Verwaltungen ein neues Selbstverständnis. „Öffentliche Verwaltung ist zu unsichtbar, wird im Ganzen nur zu abstrakt wahrgenommen und bietet keine Fläche für Empathie und den Sinn für Staatlichkeit als gemeinschaftliches Betriebssystem. Das liegt teils in der staatlichen Macht, die den Mitarbeiter*innen übertragen wurde und zu deren Schutz begründet, aber auch dass gerade der gestalterische Teil der Verwaltung kettenbriefartig der glänzenden Sichtbarkeit der Verwaltungsspitze zu arbeitet. Das ist ein politisches Drehmoment und wer selbst zu sehr in den Scheinwerfer tritt, kann da Probleme bekommen. Je offener aber eine Verwaltung als Organisation ist, desto besser können die Bürger diese begreifen und wertschätzen – beispielsweise wie sich die Medienhäuser in den letzten Jahren geöffnet haben”, sagt Oliver Rack, der bereits das Amt für unlösbare Aufgaben eng begleitete und das Thema Digitalisierung in der ÖV auch auf nationaler und internationaler Ebene unter Anderem im Rahmen der Open Government Partnership vorantreibt. Anders als bei einem Kinofilm stehe bei jedem Verwaltungsakt immer nur der Bürgermeister im Briefkopf. „Beim Film listen sie jeden Kabelträger im Abspann auf“, sagt Rack. „Eigentlich bräuchte die Öffentliche Verwaltung einen eigenen Abspann.“
Und was bleibt sonst von diesem Nachmittag in Heidelberg? Zum Beispiel die Frage, was länger dauert – die Transformation der öffentlichen Verwaltung oder die Zeit, die Gustav J. noch auf seinen neuen Ausweis warten muss. Der hat seinem Bürgeramt übrigens geantwortet, mit diesen Zeilen:
Anbei erhalten Sie den ganzen Mist zurück, rubbeln Sie, wo Sie es juckt oder wo Sie gerne rubbeln, aber lassen Sie mich mit dem ganzen Kram in Ruhe. Vielleicht machen Sie zur Reduzierung des Krankenstandes im Amt eine Rubbelpartie mit Betriebsrat und sagen mir, wer den Hauptpreis gewonnen hat und Rubbelmeister geworden ist. Ich nehme dann die Siegerehrung vor. Mit „Sperrvermerk Konzeptkunst“ meinen Sie hoffentlich nicht ihr beschissenes Verfahren. Woher nehmen Sie die Chuzpe zu unterstellen, jeder Bürger habe einen Kompjuter? Wir nicht, wir wissen auch nicht, was PIN, App, Pepp, Handi und Eifone sind. Und PUK kennen wir nur vom Eishockey. Auch sind uns www.ausweisportale.de nicht bekannt und wir wissen nicht, wo die in Berlin stehen. Wenn Sie uns aber einen Kompjuter schenken wollen, bitte auch die Schulung und für mich das Sperrkennwort „GOLDFASAN“ (so nennt mich meine Frau). Mit verblichener Hochachtung, Ihr entsetzter Bürger.
Abspann
Ivan Acimovic, Stadt Freiburg
Susan Barth, Erinnerungsguerilla, FHS Heilbronn
Julia Brade, Stadt Heidelberg
Steffen Braun, Fraunhofer IAO
Marco Brunzel, Metropolregion Rhein-Neckar
Matthias Burgbacher, PLAN:KOOPERATIV
Nora Fanderl, Fraunhofer IAO
Johanna Götz, Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin
Michael Hölscher, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer
Jens Jacobi, LfDI BW
Stefan Kaufmann, Stadt Ulm
Eva Kiltz, u-institut
Ellen Koban, Stadt Heidelberg, Stabsstelle Kultur- und Kreativwirtschaft
Julia Köhn, u-institut
Norbert Krause, krauses Projektdesign
Jan Lutz, Büro für Gestalten / OK Lab Stuttgart / luftdaten.info
Charlotte Mischler, Stadt Heilbronn
Lukas Mocek, Luftdaten.info
Jennifer Moss, The Geekettez GbR
Robert Mucha, HANIX MEDIA GbR
Ben Müller, u-institut
Florian Nader, Stadt Heilbronn
Ann-Cathrin Patzer, Verband Region Rhein-Neckar
Tycho Pfäfflin, u-institut
Marcus Pfeil, Chapter One
Oliver Rack, OGP, Politics for Tomorrow
André Trendl, Universität Heidelberg
Julia Wartmann, Aktion Musik / local heroes e.V.
Matthias Weinhold, Politics for Tomorrow
Credits
Text: Marcus Pfeil
Fotos: Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes