Schon 1989 entsteht die Idee, 1997 wird der Grund gekauft, auf dem das Dorf fortan neu entsteht. Seither werden dort Lösungen zu den Herausforderungen unserer Zeit ausprobiert und gelebt. Gabi Bott lebt seit 2001 in Sieben Linden und ist im Dorf mit ihrer Kollegin Eva Stützel für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig: „Wann hat man schon mal die Möglichkeit, ein Dorf komplett neu aufzubauen?“, sagt sie. Und mit ihm eine komplett neue Kultur. Grundlage für das Leben in Sieben Linden ist eine ganzheitliche Denkweise, die versteht, dass Menschen, Tiere und Natur keine voneinander getrennten Einheiten sind, sondern miteinander interagieren und voneinander abhängig sind. Das äußert sich zum einen im behutsamen Umgang mit Ressourcen, zum anderen in der Berücksichtigung der Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen als Fundament einer gelingenden Gemeinschaft.
Öko-Dorf Sieben Linden: Ganzheitlichkeit und Zirkularität als Gegenentwurf zu den Herausforderungen unserer Zeit
Zirkularität
Als ein übergeordnetes Ziel wird in Sieben Linden die „Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks in allen Lebensbereichen“ formuliert. Er liegt in Sieben Linden bei nur einem Drittel im Vergleich zum Bundesdurchschnitt, was 2.500 kg CO2-Äquivalenten entspricht. Das wird durch möglichst geschlossene Energie- und Materialkreisläufe erreicht. Dazu gehören das Bauen mit natürlichen, regional verfügbaren Rohstoffen wie Stroh, Lehm und Holz, solare Strom- und Warmwasserversorgung, sowie ökologischer Gartenbau zur Selbstversorgung.
Unser derzeitiges Wirtschaftssystem ist linear organisiert. Wir entnehmen der Natur Rohstoffe, um Produkte herzustellen, die nach ihrer Verwendung als Abfall enden — ein Konzept, das der Natur fremd ist. Wer einen Garten hat und kompostiert, der kennt das: Was in der Natur vorkommt, geht in den Boden zurück und wird dem Kreislauf wieder zugeführt.
Die Linearität kam mit der Industrialisierung und mit ihr kamen Abhängigkeiten in Form von Arbeitsplätzen und Aktienkursen. Abhängigkeiten, die es schwer machen, sich von ihr zu trennen, aber die eingangs genannten Probleme immer weiter verstärken. In Sieben Linden will man ganz bewusst nicht auf einer von der Außenwelt getrennten Insel leben — sich aber aus diesen Abhängigkeiten lösen und eher Teil der Lösung als Teil des Problems sein.
Und so mutet es hier als Selbstverständlichkeit an, dass Niedrigenergie-Häuser gebaut werden, viele davon als Strohballenhäuser. Das Stroh dafür kommt von Bio-Bauern aus der Umgebung, das Bauholz zum Teil aus den eigenen Wäldern. Wenn die Wärme der Sonne nicht mehr ausreicht, wird mit Holz geheizt, das ebenfalls aus dem eigenen Wald kommt. Circa 65 Prozent der benötigten elektrischen Energie wird durch Photovoltaik-Anlagen erzeugt. Auf circa 3 Hektar Land wird ökologischer Gartenbau betrieben, der circa 70 Prozent des Bedarfs an Gemüse, Obst und Kräutern abdeckt. Die restlichen Lebensmittel werden vom Biogroßhandel, der Sieben Linden einmal in der Woche beliefert, zugekauft. Wie sich der Kreis schließt? Die Toiletten des Dorfes sind nicht an die Kanalisation angeschlossen. Ihr Inhalt wird kompostiert und unterstützt als fruchtbarer Kompost Baum- und Heckenpflanzungen.
Gemeinsame Kultur
Ganzheitlichkeit hört in Sieben Linden jedoch lange nicht beim Bauen und der Lebensmittelversorgung auf. Im linearen Denken werden Menschen als einzelne Glieder der auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Wertschöpfungskette vornehmlich als Konsumierende wahrgenommen. In Sieben Linden wird ganz bewusst versucht, aus diesem System auszubrechen und einen Gegenentwurf zu etablieren. Dort soll der Mensch in seiner Ganzheit wahrgenommen und als produktiver Teil des Kreislaufs begriffen werden.
„Das Zusammenleben als Gemeinschaft verlangt von uns die Erschaffung einer gemeinsamen Kultur“, steht in der Info-Broschüre von Sieben Linden. Das äußert sich zum Beispiel darin, dass viele Mahlzeiten zusammen eingenommen werden oder dass Treffen zum Beispiel mit einer gemeinsamen Stille oder einem gemeinsamen Lied beginnen. In einem weiteren Schritt betrifft das jedoch nicht nur die praktische Organisation des gemeinschaftlichen Alltags, sondern auch die Entscheidungsfindung innerhalb der Gemeinschaft. Die Erschaffung einer gemeinsamen Kultur gelingt nur dann, wenn sich bei Entscheidungen alle mitgenommen fühlen.
Zu Anfang hieß das in Sieben Linden, Entscheidungen müssen zunächst im kompletten Konsens, später im „Konsens minus 1“ getroffen werden, also einstimmig mit maximal einem Nein oder einer Enthaltung. Auch, wenn die Vollversammlungen selten voll (sprich, von allen Mitgliedern der Gemeinschaft) besucht waren, ist leicht vorstellbar, dass Entscheidungen so weder reibungslos noch schnell zu treffen sind. Gabi Bott: „Du kannst einfach nicht mit allen Leuten immer über alles reden, das ist eine totale Überforderung.“ Ein neues Modell für die Entscheidungsfindung in Sieben Linden musste her — und so wird das Dorf nicht nur ein Modell in Bezug auf den behutsamen Umgang mit unserer Umwelt, sondern auch für gelebte (Basis-)Demokratie.
Gelebte Demokratie
Ein Rat aus sieben „Weisen“ wurde gewählt, der in Feedback-Schleifen mit der Gemeinschaft in einem einjährigen Prozess das heute noch angewendete Rätesystem entwickelte. 2008 wurde es verabschiedet und eingeführt. Anfang jedes Jahres werden nun Räte bestimmt, die sich bestimmten Themen widmen, so gibt es zum Beispiel den Baurat, den Naturwarenrat oder den Ankommensrat. Alles, was besprochen wird, wird protokolliert und kann eingesehen werden, die Sitzungen sind öffentlich.
Dabei wird auf Ausgewogenheit innerhalb des Rates geachtet. Im Lebensmittelrat zum Beispiel, der über den Zukauf der Lebensmittel entscheidet, die nicht aus Sieben Linden kommen, sollen demnach nicht nur Veganer sitzen, aber eben auch nicht nur Fleischesser. Oft werden die Räte des Vorjahres bestätigt.
Gabi Bott: „Die Basis für das Rätesystem ist das Vertrauen. Es muss sich nicht jede*r für alles interessieren beziehungsweise in alles einarbeiten und eine Meinung dazu haben. Du kannst auch sagen, ‚Ich vertraue euch‘.“ In den Räten müssen Entscheidungen einstimmig beschlossen werden. Um Entscheidungsprozesse in den Vollversammlungen zu beschleunigen, wurde sich vom „Konsens minus 1“-Prinzip verabschiedet. Für einen Beschluss reicht nun eine Zweidrittelmehrheit. Ein Veto kann jedoch eingelegt werden, aber es blockiert nicht mehr dauerhaft, sondern nur bis zur nächsten Sitzung einen Monat später.
Trotzdem Entscheidungen nicht mehr von allen und im Konsens getroffen werden, glauben Gabi Bott und Eva Stützel zu beobachten, dass die Entscheidungen, die von den Räten getroffen werden, besser sind als im Konsens-Modell vorher. Oder gerade deswegen? Die Gruppen hätten eher die Zeit, sich mit einem Thema intensiv zu beschäftigen.
Man darf nicht davon ausgehen, dass wir hier in einem hierarchiefreien oder machtfreien Raum leben, da würden wir uns was vormachen. Das gibt es wohl nirgendwo, das kommt in Gruppen immer vor. Es ist nur die Frage, wie wir damit umgehen, also wie transparent und offen sich damit auseinandergesetzt wird.
Was aber passiert, wenn sich bei Entscheidungen nicht alle mitgenommen fühlen zeigte sich, als das Rätesystem geändert werden sollte. Vor zwei Jahren wurde hinterfragt, ob die Räte nicht zu viel Macht auf sich vereinten. Gabi Bott: „Man darf nicht davon ausgehen, dass wir hier in einem hierarchiefreien oder machtfreien Raum leben, da würden wir uns was vormachen. Das gibt es wohl nirgendwo, das kommt in Gruppen immer vor. Es ist nur die Frage, wie wir damit umgehen, also wie transparent und offen sich damit auseinandergesetzt wird.“
Eine kleine Gruppe wurde gebildet, die das Rätemodell überarbeiten sollte. Das neue Modell wurde auch verabschiedet, wie sich heraus stellen sollte jedoch als das, was in Sieben Linden als „lauer Konsens“ bezeichnet wird. Eva Stützel: „Alle hatten das Gefühl, die haben jetzt so viel gearbeitet, da können wir nicht einfach dagegen stimmen. Ich selbst war auch nicht überzeugt, deswegen bin ich gar nicht erst zur Abstimmung gegangen. Das neue System hat nicht wirklich funktioniert, und steht beispielhaft dafür, dass ein Modell, das nur im Kopf entsteht und nicht in die Kultur der Gemeinschaft einsickert, nicht von ihr getragen wird. Nach einem Jahr sind wir zum alten Modell zurückgekehrt.“
Vorbildlicher Dialog
Das Beispiel des Rätemodells führt eindringlich vor Augen, womit so viele Gemeinschaften zu kämpfen haben: Aufoktroyierte Entscheidungen finden oftmals nicht den nötigen Rückhalt und führen in der Praxis nicht zu befriedigenden Ergebnissen. Dass es auch in Sieben Linden misslingende Entscheidungsprozesse gibt, zeigt nur, dass auch die besondere Gemeinschaft des Öko-Dorfs mit den gleichen Problemen zu kämpfen hat wie die sie umgebende Gesellschaft.
Bemerkenswerter als die Existenz solcher Konflikte erscheint also der Umgang mit ihnen. Das beständige Austarieren der gemeinsamen Werte, das Nachjustieren und Verfeinern der alltäglichen Abstimmungsabläufe im Kleinen und im Großen. Sieben Linden steht dabei für eine offene Dialogkultur, in der die Meinung des Einzelnen nicht als Partikularinteresse begriffen wird, sondern besonderes Gewicht hat.
Zugegeben, Dialog und angewandte Basisdemokratie dürften in Sieben Linden unter anderem auch deshalb so gut funktionieren, weil es sich um eine überschaubare Gemeinschaft handelt, deren Mitglieder gemeinsame Ziele und Werte teilen. Zur Zeit leben dort 150 Menschen, mehr als 300 sollen es nicht werden. Die Erkenntnisse aus dem Öko-Dorf dürften sich deshalb nicht eins zu eins auf größere und heterogenere Gruppen oder gar ganze Staaten übertragen lassen.
Trotzdem, in einer Zeit wie der heutigen, in der die Herausforderungen immer komplexer, aber auch die Möglichkeiten der Meinungsartikulation immer vielfältiger werden, ist es diese zirkuläre Dialogstruktur, die Sieben Linden zu einem Ort der Zukunft und Modell für uns alle werden lässt. Neue Medien, die vormalige Rezipienten zu Produzenten von Inhalten und damit Meinungen werden lassen, verlangen nach der besonderen Verantwortung des Einzelnen, für sich und seine Positionen einzustehen. Eine Verantwortung, wie sie in Sieben Linden seit Jahrzehnten in allen Lebensbereichen erfolgreich vorgelebt wird.
Was sind die Orte der Zukunft?
Überall im Bundesgebiet gibt es Orte, an denen sich Menschen mit Zukunftsgestaltung beschäftigen, neue Ideen testen und Lösungsansätze entwickeln. Um einen Überblick zu gewähren, wo solche Orte zu finden sind und eine Vorstellung zu vermitteln, bei welchen Themen die Kultur- und Kreativwirtschaft sinnvolle Impulse für die Zukunft liefern kann, schicken wir den freien Journalisten Björn Lüdtke genau dorthin – auf eine Reise durch Deutschland und die Zukunft. Hier können Sie seine Route komplett verfolgen. Die “Orte der Zukunft” sind Teil des Fiction Forums der Kultur- und Kreativwirtschaft.
Kennen Sie auch einen Ort der Zukunft? Dann schreiben Sie uns: presse@kreativ-bund.de
Credits
Text: Björn Lüdtke
Fotos: Björn Lüdtke, William Veder