Mit „Lockdown“ hat das Medientheaterkollektiv machina eX ein kooperatives kulturelles Erlebnis geschaffen, das auch während der Pandemie funktioniert: Vom heimischen Sofa aus aktiv an einem Theaterstück teilnehmen – und das einzige, was man dafür braucht, ist das eigene Smartphone. Das ergibt auch langfristig Sinn. Schließlich kann niemand voraussagen, ab wann und in welcher Form der normale Kulturbetrieb wieder losgehen kann. „Ich könnte mir vorstellen, dass das noch ein ziemlicher Marathon sein wird. Und wenn man immer einen Plan B in der Tasche haben muss, wenn man inszenieren möchte – warum dann nicht gleich an einem guten Plan A arbeiten, der Pandemie-sicher ist?“, erzählt Ensemblemitglied Clara Ehrenwerth im Talk „Die Gute Idee“ mit dem Kulturjournalisten Konrad Spremberg.
Die gute Idee: Live-Theater im Wohnzimmer
Eigentlich plante das Medientheaterkollektiv machina eX Anfang des Jahres eine Inszenierung für das „ON/LIVE“-Festival im FFT Düsseldorf im Mai. Dann kamen Corona und die allbekannten Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Eine Situation, die die Künstler*innen des Kollektivs aber nicht als Hindernis, sondern als Chance wahrnahmen: „“Wir haben schnell bemerkt, dass wir große Lust haben, genau zu diesem Zeitpunkt etwas zu machen – und die Freiräume zu nutzen, die in der ansonsten ziemlich schrecklichen Situation gerade entstehen.“, fasst Clara zusammen. Und so stellte das siebenköpfige Team in weniger als sechs Wochen ihr erstes digitales Theaterstück “Lockdown“ auf die Beine, das gleichzeitig ein Computerspiel ist und den veränderten Alltag in Zeiten von Corona thematisiert.
Alleine für die Kreation eines solchen Erzählkosmos brauchten machina eX normalerweise eigentlich sechs bis acht Wochen: „Wir treffen uns und sind von morgens bis abends zusammen. Probieren Ideen aus, Proben, Schreiben, Komponieren und Programmieren.“ Das musste nun alles digital organisiert werden „Und nach einer kurzen Zeit des Eingroovens haben wir in den letzten Wochen eine gute Struktur gefunden, um unsere verschiedenen Alltage miteinander zu verschränken.“
Dezentrale Produktionsprozesse: „Mehr Beschleuniger als Bremser“
Was auch etwas für sich hat: Da die Kollektivmitglieder in verschiedenen Städten leben, wurde schon länger ein dezentraler Produktionsprozess vom eigenen Computer aus angedacht. „Normalerweise hätten wir zu viel Angst oder Respekt davor gehabt.“ Nun gab es also den notgedrungenen Sprung ins kalte Wasser. „Und jetzt wissen wir, dass diese Arbeitsweise für ein digitales Game funktioniert.“ Weswegen dieses neue Arbeiten sicher einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen wird: „Für uns ist das gerade mehr Beschleuniger als Bremser.“
„Was ich gelernt habe, ist so eine gewisse Uneitelkeit und Furchtlosigkeit.“
Zudem hat sich die Herangehensweise ans eigene Schaffen gewandelt. Wer innerhalb von wenigen Wochen eine Performance entwirft und umsetzt, hat keine Zeit für überbordenden Perfektionismus. „Was ich gelernt habe, ist so eine gewisse Uneitelkeit und Furchtlosigkeit. Normalerweise will ich das beste Stück, das jemals präsentiert wurde, produzieren“, erzählt Clara. Doch würde im Moment jeder improvisieren – und alle wüssten, dass vieles, was gerade produziert wird, schnell entwickelt wurde. „Dieser etwas sanftere Blick auf die Dinge, vom Publikum, aber auch von den Produzierenden selbst, der tut uns glaube ich gerade allen sehr gut.“
Aber wie kann man sich die Umsetzung einer solchen digitalen Performance vorstellen? Bei „Lockdown“ befindet sich das Publikum eben nicht in einem Theaterraum, sondern in den eigenen vier Wänden – mit einem Smartphone in der Hand, auf dem der Messenger Telegram installiert ist. Und schon kann es losgehen: Alle Teilnehmer*innen werden einem fiktiven WG-Gruppenchat zugefügt. Protagonist Chris, der diesen Chat verwaltet, schickt an seine Mitbewohner*innen, zu denen man für die Dauer dieses Spieles dazugehört, die Nachricht, dass die gemeinsame Mitbewohnerin Tess seit Stunden verschwunden ist. Eine Tatsache, die unter normalen Umständen nicht weiter besorgen würde. Aber in Zeiten des Corona-bedingten Lockdowns doch ungewöhnlich ist: Denn wo soll sie bitte sein?
Und so geht eine gemeinsame Spurensuche los. Wie hat sie ihren Tag verbracht, welche Aufträge hatte sie in ihrem Job als Fahrradkurierin – und welche anderen Personen waren involviert? In der Chat-Gruppe wird sich ausgetauscht, es werden Links zu Websites und Telefonnummern von Kontakten verschickt, die wichtige Hinweise zum Verbleib von Tess geben können, außerdem viele Textnachrichten, Fotos und Voice-Messages. „So entsteht ein kleiner Krimiplot, in dem immer mehr Spuren zusammengeführt werden, sodass die Spieler*innen, wenn es gut läuft, Tess auf die Schliche kommen“, erklärt Clara.
In einer fiktiven WG spielen drei bis vier Teilnehmer*innen aus ganz Deutschland miteinander; zehn Spiele finden gleichzeitig statt und werden vom machina-ex-Team inszentiert. Nach jedem Spiel, das etwa zwei Stunden geht und je nach Interaktion der Teilnehmer*innen immer ein wenig anders verläuft, gibt es die Möglichkeit, sich mit den anderen Beteiligten in einem Online-Meeting auszutauschen. So gibt es ein gewisses Live-Gefühl und eine gemeinsame Teilhabe mit den anderen Besucher*innen inklusive.
Zwischen Gaming und Theater-Inszenierung
Auch vor Corona war bei machina ex, die ihre Inszenierungen als „spielbare Theaterstücke, die zugleich begehbare Computerspiele sind“ bezeichnen, die Interaktion des Publikums immer Teil des Programms. Bis jetzt befanden sich die Besucher*innen und die Performer*innen allerdings physisch in einem Raum und gemeinsam bewegte man sich durch das jeweilige Setting. „Es gibt recht klassische Theaterszenen, die dem Publikum vorgespielt werden. Dann stoppt die Geschichte, das ist dann wie ein Loop, es geht nicht mehr weiter – und an dieser Stelle ist das Publikum aufgefordert, gemeinsam Rätsel zu lösen.“ Das funktioniert dann wie Point-and-Click-Adventures, nur eben in analog. Zum Beispiel sagt eine Figur in einem Theaterstück dann immer wieder: „Ich muss den Boss anrufen.“ Und das Spiel geht nicht weiter, bis die Besucher*innen aus einem Adressbuch herausgefunden haben, wie dieser Boss heißt, die Nummer herausbekommen und sie in ein Telefon am Set eingegeben haben. „Dann kommt ein Hörspiel aus dem Telefon und die nächste Szene geht los.“
Ein quasi Vorläufer von „Lockdown“ war das Spiel „Patrol“ – hier mussten Teilnehmer*innen als Angestellte einer fiktiven Sicherheitsfirma mit einem Smartphone durch Berlin laufen und dabei Aufträge annehmen und erfüllen. „Bei diesen Spielen musste man aber körperlich an einen bestimmten Ort. Lockdown ist tatsächlich das erste Spiel, bei dem jede Spieler*in Zuhause sitzt.“ Und das war auch eine der großen Herausforderungen in der Umsetzung: „Wie ersetzen wir Dinge, die uns sonst zur Verfügung stehen – wie zum Beispiel ein Bühnenbild, über das wir ja normalerweise Atmosphäre schaffen und erzählen, in welcher Welt wir uns gerade befinden.“
Die ersten Inszenierungen ab Mitte Mai waren direkt ausgebucht – und es werden regelmäßig Zusatztermine angeboten. Es ist wahrscheinlich, dass es eine Fortsetzung von Lockdown geben wird. Und auch Virtual oder Augmented Reality wird für künftige Produktionen nicht ausgeschlossen. Denn eines haben machina eX gelernt: Pandemie-sicher ist Pandemie-sicher.
https://fft-duesseldorf.de/stueck/lockdown-14/
Mit dem Format “Die gute Idee” wollen wir den Blick auf Ideen richten, die inmitten der Einschränkungen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie entstanden sind. Im Interview mit dem Radiomoderator und Journalisten Konrad Spremberg erzählen Gäste von ihren Projekten, die in und teilweise sogar durch die Krise entstanden sind. Welche weiteren guten Ideen dort bisher vorgestellt wurden, können Sie hier sehen.
Credits
Text: Kathrin Gemein
Fotos: ©FFT/ Fotos: Clara Marx-Zakowski, Paula Reissig