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6 Perspektiven auf den Strukturwandel: eine Explorationsreise durch Sachsen-Anhalt

Strukturwandel erfordert Transformation. Wandel steckt schließlich schon im Begriff. Doch wie laufen diese Transformationsprozesse ab? Um ein besseres Verständnis für die verschiedenen Perspektiven auf den Strukturwandel zu bekommen, tourte das Kompetenzzentrum drei Tage mit seinem Bus durch das mitteldeutsche Revier, um vor Ort mit Unternehmen und Institutionen darüber zu sprechen.

Während in Zeitz die Projektteams des Creative Labs Kohle Ideen ihre Arbeit aufnahmen, um für 10 Wochen ihre Ideen zur Gestaltung des Strukturwandels weiterzuentwickeln, besuchte das Kompetenzzentrum mit seinem Bus verschiedene Partner*innen aus dem Netzwerk des Labs in Sachsen-Anhalt. Der Bus als Ort der Inspiration und Vernetzung – ein bewegender und beweglicher Ort. Nach einer kurzen Tour durch die Ausstellung des Busses fanden vertiefende Gespräche mit den Partner*innen über Transformation und Strukturwandel statt. Dabei waren die Gäste eingeladen, drei Dinge einzubringen: ihre wichtigste Ressource, eine drängende Herausforderung und schließlich ein Produkt/Artefakt als Symbol für eigene Innovationsprojekte. So entwickelten die Partner*innen sukzessiv ein Netz aus Fragen, Rohstoffen und Ideen.

Vom 30.06. bis zum 02.07. machte der Bus Halt an 6 Stationen, um mit Unternehmen und Institutionen zu sprechen, die den Strukturwandel bereits erleben und gestalten. Vor welchen Herausforderungen stehen sie, was sind die wertvollsten Ressourcen der Region und welche Ideen gestalten schon jetzt die Zukunft?

Station 1: Wissenschaftshafen Magdeburg | Im Gespräch mit der Nahverkehrsservice Sachsen-Anhalt GmbH (NASA GmbH)

Mobilität

Vorm Elbedom des Fraunhofer-Instituts IFF stoppt das Kompetenzzentrum das erste Mal. Hier, wo 360-Grad-Technologie und VR-Storytelling zusammentreffen, erklären Sebastian Schmernbeck und Sophie Golinski ihre Perspektive zum Strukturwandel. Als Betreiber des sachsen-anhaltinischen Nahverkehrs sind für sie die Menschen, die sie befördern, nicht nur ihre Kernzielgruppe, sondern auch die wichtigste Ressource in der Region. Ob es WLAN in der Straßenbahn gibt, welche Taktung der Bahnen es braucht und welche Online- und App-Angebote bereitgestellt werden, hängt von den Nutzer*innen ab. Dabei entwickeln sie ihr Angebot stetig weiter. Nicht zuletzt, um mehr Menschen zum umweltverträglicheren ÖPNV zu bewegen, ländliche Räume anzuschließen und das Pendeln zwischen Lebens- und Arbeitsort zu erleichtern. Eine Innovation, die deshalb entstanden ist, ist die Insa-App. Sie zeigt die nächstliegende Haltestelle und trackt in Echtzeit Ankunft und Standort des Verkehrsmittels, um das Einsteigen und Fahren mit dem ÖPNV noch attraktiver zu gestalten. Eine Frage, die die Nasa noch und immer wieder beschäftigt, ist: Welche Erwartungen werden an den ÖPNV gestellt? Mit dieser Frage im Gepäck macht der Bus Halt bei der nächsten Station.

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Station 2: Kulturpalst Bitterfeld-Wolfen | Im Gespräch mit der EWG Bitterfeld-Wolfen, IKW Anhalt-Bitterfeld und der Eventagentur Splitter-Promotion

Industriekultur

„ÖPNV muss bedarfsgerecht gestaltet sein, also Interessen von Berufspendler*innen, aber auch Tourist*innen abdecken“, erklärt Matthias Goßler vorm Kulturpalast Bitterfeld-Wolfen. Der Eventmanager erhielt in diesem Jahr über den Bund Mittel, den historischen Kulturplast im Zentrum des Industrieparks Bitterfeld-Wolfen wiederaufzubauen. Er selbst ist in der Region zu Hause und weiß, welche Bedarfe die ansässigen und hochtechnisierten Chemieunternehmen für die Gewinnung von jungen Fachkräften und Auszubildende haben: Eine gute Verkehrsanbindung, aber auch ein attraktives Kultur- und Freizeitangebot.

Der Wandel und das Zusammenspiel von Industrie und Tourismus beschäftigt Bitterfeld-Wolfen schon seit der Wende, beschreibt Theresa Rienäcker, EWG Anhalt-Bitterfeld. Noch bis 1991 wurde in der Goitzsche Braunkohle abgebaut und verhalf Bitterfeld so zu seinem zweifelhaften Ruhm als schmutzigste Stadt Europas. Heute ist die Mulde der Goitzsche mit Wasser gefüllt und ein Naherholungs- und Freizeitgebiet ist entstanden. Als Zeichen der stetigen Transformation von Bitterfeld-Wolfen lassen Rienäcker und Goßler einen historischen Schieber aus dem Wasserwerk des heimischen Industrieparks im Bus zurück: Die alte Absperrvorrichtung für Rohrleitungen wurde mit einem neuen Schieber zu einem neuen Gegenstand verschweißt – die schmutzige und hochtechnisierte Industrie, Vergangenheit und Gegenwart, in einem Artefakt (Die ganze Geschichte könne Sie am Ende des Beitrags lesen). Auf die Frage hin, was heute die wertvollste Ressource in Bitterfeld-Wolfen sei, sind sich die Gesprächspartner*innen einig: Die Menschen, die den Wandel hier erst möglich machen. Und Menschen, die Wissen in die Anwendung bringen. Insbesondere auch, um eine der größten Herausforderungen unserer Zeit zu lösen: „Wie wird Klimaschutz zu einem Thema für alle?“.

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Station 3: Musikinformationszentrum Halle | Im Gespräch mit den Stadtwerken Halle

Grüne Innenstädte

Als Versorger der Stadt Halle steht Klimaschutz für die Stadtwerke als Thema ganz weit oben. Ob Energie- und Wasserversorgung oder Müllentsorgung in Halle werden verschiedene Möglichkeiten erprobt, die Bürger*innen beim Thema Klimaschutz miteinzubeziehen: Außenwerbung an den Straßenbahnen, Beratung zum Thema Energiesparen im eigenen Haushalt und Informationen rund um das Thema Mülltrennung und Recycling. Für Antje Pronochw, Stadtwerke Halle, drängt sich im Kosmos des Strukturwandels ein ganz anderes Thema auf: Wasser. Wasser ist nicht nur im hallensischen Stadtbild sehr präsent, es ist auch essenziell, um das Ökosystem Stadt aufrechtzuerhalten, zu kühlen und Bäume als CO2-Speicher zu schützen und am Leben zu halten. Ein Produkt, das sie mit den Bürger*innen hier testet, ist ein Wassersack, der die Straßenbäume auch in immer länger währenden Hitzeperioden mit ausreichend Wasser versorgen. Doch weiter offen bleibt: Wie sorgen wir auch zukünftig für grüne Innenstädte?

 

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Station 4: Hochschule Anhalt Köthen | Im Gespräch mit dem Forschungs-, Transfer- und Gründungszentrum der Hochschule Anhalt

Biodiversität

Die perfekte Überleitung für die nächste Station auf der Route des Kompetenzzentrums. Auf dem Gelände der Hochschule Anhalt in Köthen erklärten Jan-Henryk Richter-Listewnik vom Forschungs-, Transfer- und Gründerzentrum der Hochschule und Sandra Dullau, ebenfalls Teil des Gründerzentrums und Mitarbeiterin des Fachbereichs Landwirtschaft, Ökotrophologie und Landschaftsentwicklung, ihre Sicht auf den Wandel: „Ökologie und Ökonomie müssen zukünftig noch besser zusammenwirken. Mit der grauen Infrastruktur muss die Grüne immer mitgedacht werden.“ Reststoffoptimierung, kompostierbare Verpackungen und Agriphotovoltaik sind nur ein paar der Zukunftsideen für das Revier 2038* Auch die Stadt der Zukunft muss Biodiversität als Prinzip in ihrer Infrastruktur verankern. Beispielsweise können Gebäudefassaden durch vertical gardening von verschiedensten Arten als Lebensraum  genutzt werden. Auch Böden bleiben weiterhin eine der wichtigsten Ressourcen in der Region. Wo früher Braunkohle als Energieträger gefördert werden konnte, können heute durch gezielte Aussaat gebietseigener Wildpflanzenmischungen neue Lebensräume für Arten entstehen. Wie bringen wir also Biodiversität und Strukturwandel zusammen? Als Anregung dazu überreichten Richter-Listewnik und Dullau dem Kompetenzzentrums-Team ihr Artefakt: Den Leitfaden „Artenreiche und bunt blühende Wildblumenwiesen richtig anlegen und pflegen“ mit den dazugehörigen Samentütchen.

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*Nach den gesetzlichen Beschlüssen der Kohlekommission soll der Ausstieg aus der Braunkohle bis spätestens 2038 erfolgen. Vgl. Pressemeldung der Bundesregierung

 

Station 5: Tagebau Profen | Im Gespräch mit der MIBRAG (Mitteldeutsche Braunkohlegesellschaft mbH)

Neues Selbstverständnis einer Region zwischen Tradition & Zukunft

Kurz vor Zeitz stoppt der Bus des Kompetenzzentrums am Tagebau Profen, um mit Maik Simon von der MIBRAG zu sprechen. Hier, wo noch Braunkohle abgebaut wird, werden die Kontraste des Strukturwandels deutlich spürbar. Auf der einen Seite sorgt die MIBRAG für Energie und Arbeitsplätze, auf der anderen Seite müssen bis 2038 umfassende Transformationen stattfinden, um als Unternehmen weiter bestehen zu können und Stellen zu retten. Renaturierung für touristische Naherholungsgebiete, Flächennutzung für Artenvielfalt und Viehzucht und aber auch grünen Strom sind dabei Ansätze der Braunkohlegesellschaft. Die grüne Nachnutzung der Tagebauten scheint als Konzept gefestigt, doch für Simon bleibt eine Frage offen: „Wie kann die Zukunft mit der Tradition verknüpft werden?“ Es geht nicht nur um theoretische Lösungen und Technologie, um dem Strukturwandel zu begegnen, sondern auch um Emotionen, Erinnerungskultur und regionale Identität.

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Ankunft in Zeitz

3 Tage, 5 Gespräche, 5 drängende Fragen – bereits diese kurze Reise lässt erahnen, wie komplex sich der Ausstieg aus der Kohle und auf die regionalen Strukturen auswirkt. Dabei liegen Alt und Neu, Wegfall und Chance ganz dicht beieinander, weiß auch Christian Thieme, Oberbürgermeister der Stadt Zeitz. Hier wo demografischer Wandel, verwaiste Einkaufsstraßen und Leerstand das Stadtbild prägen, ist der Wunsch nach Transformation besonders groß. Deshalb begrüßt er auch das Vorhaben des Creative Lab: „Wir brauchen neue Ideen, wir brauchen junge Menschen und wir brauchen auch die Kultur- und Kreativwirtschaft, um dem Strukturwandel zu begegnen.“ Die sechs Teams des Creative Labs Kohle Ideen werden noch bis zum 5. September an neuen Perspektiven für den Strukturwandel arbeiten. Klar ist, sie können den Strukturwandel nicht lösen. Doch sie können versuchen, unternehmerische Antworten aus der Kultur- und Kreativwirtschaft auf die drängenden Herausforderungen wie Mobilität, Tourismus oder Identität zu finden und sich von den zahlreichen Innovator*innen aus der Region inspirieren lassen.

 


 

Exkurs: Dier Schieber aus Bitterfeld-Wolfen als Artefakt für den Strukturwandel im historischen Verlauf

Bei dem „Artefakt“ handelt es sich um einen Schieber, also eine Absperrvorrichtung an Rohrleitungen, und ein Verteilerstück. Die Teile stammen aus einem ehemaligen Wasserwerk, das den heutigen Chemiepark Bitterfeld-Wolfen versorgt hat. Die Verfügbarkeit von Wasser aus der Mulde war neben der verkehrlich günstigen Lage und den Braunkohlevorkommen ein entscheidender Faktor bei der Ansiedlung der Industrie seit Ende des 19. Jahrhunderts.

Das Thema zieht sich bis heute wie ein roter Faden durch die Entwicklung und Gestaltung der Bitterfeld-Wolfens. Dabei hat in den letzten 100 Jahren weniger das Wasser die Landschaft geformt, sondern der Mensch mit Bagger und Pumpen. Flüsse wurden verlegt und der Grundwasserspiegel drastisch abgesenkt, um Kohlevorkommen z. B. in der Goitzsche erschließen zu können. An anderer Stelle wurde das Wasser dringend gebraucht: zum Kühlen in den Braunkohlekraftwerken und stofflich in der chemischen Industrie.

Die guten Standortbedingungen führten zu einer wirtschaftlichen Blüte. Viele Menschen kamen in die Region, um zu arbeiten, und die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der Betriebe brachten Innovationen hervor, um die bis heute niemand herumkommt: Kunstfasern, PVC, der Farbfilm. Viele verbinden mit Bitterfeld-Wolfen aber auch verheerende Umweltverschmutzung, denn Abwasseraufbereitung, Sondermüllbehandlung und Recycling spielten damals noch keine Rolle.

Wer heute hier her kommt findet einen dynamischen Industriestandort ohne „stinkende Giftbrühe“, dafür mit direkter Anbindung an ein Naherholungsgebiet. Viele ehemalige Tagebaurestlöcher sind zu Seen mit bester Wasserqualität geworden, die Halden zu weitläufigen Wäldern. So nah wie hier liegen Kultur- und Naturlandschaften, Arbeits- und Freizeiträume an kaum einem anderen Ort zusammen. Wasser ist wieder zum Standortfaktor geworden, für Mensch und Industrie.

Der alte Schieber und das neue Verteilerstück sollen genau das widerspiegeln: Die (versuchte) Bändigung der Naturelemente, Industrie, die Verbindung von Alt und Neu und die Gestaltung unserer Landschaft, die wir wieder einmal selbst in der Hand haben. Dieses Mal haben wir uns für den Weg im Einklang mit der Umwelt entschieden – eine Erkenntnis die sicher auch aus den Erlebnissen bei den Hochwassern 2002 und 2013 rührt, als sich die Natur ihre Räume zurückgeholt hat und uns die Seenlandschaft hinterlassen hat, die wir heute so schätzen.

Credits

Text: Franziska Lindner

Fotos: Transmedial

Anstehende Veranstaltungen

Es gibt derzeit keine bevorstehenden Veranstaltungen.

Credits

Text: Franziska Lindner

Fotos: Transmedial

Wie trägt Kultur- und Kreativwirtschaft zu mehr Kreislaufwirtschaft bei?

Prinzipien aus der Natur abzuschauen hat schon viele Erfindungen hervorgebracht. Insbesondere Kreislaufsysteme der Natur sind Vorbilder für ein nachhaltigeres Leben. Die Umgestaltung unserer Wirtschaft zu einem kreislaufwirtschaftlichen System stellt jedoch eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar, die nur branchenübergreifend und ganzheitlich gelöst werden kann. Im Unterschied zum deutschen Begriff „Kreislaufwirtschaft“, der sich auf den Umgang mit Abfall fokussiert, ist der englische Begriff „Circular Economy“ (also „zirkuläres Wirtschaften“) bereits viel weiter gefasst und betrachtet das gesamte Produktsystem. Hier geht es um durchdachte Kreisläufe von Anfang an, die bereits beim Design von Produkten beginnt.

Innovative Ideen und praktische Ansätze für zirkuläres Wirtschaften finden sich schon seit Jahren in der Kultur- und Kreativwirtschaft, zum Beispiel in der Architektur, im Produkt- und Materialdesign, der Film- und Veranstaltungsindustrie sowie dem Modemarkt. Viele Beispiele werden Sie in diesem Magazinschwerpunkt kennenlernen können

In unserer Kurzreportage zur Kreislaufwirtschaft haben wir diesmal mit Architekt*innen Sandra Düsterhus (Point.Architektur) und Martin Haas (haascookzemmrich) über die Ansätze bei ihren Projekten in der Außen- und Innenarchitektur gesprochen und was der Fokus auf Kreislaufwirtschaft auch für die Gestaltung bedeutet.