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In Nürnberg beginnt Stadtentwicklung in der U-Bahn

Um eine diverse Beteiligung von Bürger*innen an der Mitgestaltung ihrer Stadt zu erreichen, soll in Nürnberg die U-Bahnlinie U1 als Kommunikationsraum genutzt werden. Dreh- und Angelpunkt soll ein „Amt für Ideen“ sein.

Das mit der Beteiligung von Bürger*innen ist so eine Sache. Auf der einen Seite ist die Frustration groß, bei ausgewählten wichtigen Entscheidungen über die Gestaltung der Orte, an denen man lebt, nicht mit einbezogen zu werden. Auf der anderen Seite wird das Angebot häufig nicht wahrgenommen, wenn dazu eingeladen wird. Das liegt nicht immer an fehlendem Interesse oder mangelnder Lust, sondern vielleicht auch an einem anstrengenden Job, zu versorgenden Kindern und Hobbies, die in der knappen Freizeit untergebracht werden wollen.

So passiert es, dass bei kommunalen Versammlungen mehrheitlich eine recht homogene Gruppe von Menschen aus dem bildungsbürgerlichen Milieu anzutreffen ist und das Stadtbild ihren Vorstellungen entsprechend weiterentwickelt. „Das hat den Touch einer Demokratie, es ist aber nicht demokratisch“, sagt Sebastian Schnellbögl, Designer beim Urban Lab in Nürnberg, wo man genau an diesem Umstand etwas ändern möchte.

Quartier U1

Statt Wartenummern werden hier Tickets gezogen.

Das Urban Lab setzt sich zum Ziel, Bürger*innen dafür zu begeistern, ihre Stadt selbst zu gestalten. Bereits seit 2014 entwickelt es daher Beteiligungsformate im Bereich Stadtentwicklung. Nun will es die Nürnberger U-Bahn als Medium zur Kommunikation zwischen Bürger*innen und Stadt nutzen, genauer gesagt die U1. In dem Projekt laufen viele vorhergehende Ideen und Beobachten zusammen. Entstanden ist es durch die Ausschreibung der Nationalen Stadtentwicklungspolitik zu „Neuen Modellen der Quartiersentwicklung“.

Schnellbögl: „Wir möchten mit der U1 als Kommunikationsraum versuchen, Leute zu erreichen, die wir sonst nicht erreichen. Sie wird von Menschen frequentiert, die nicht zwangsweise in das klassische Bürger*innen-Beteiligungsbild passen. Die U-Bahn ist allen zugänglich und die U1 ist die am meisten genutzte Strecke. Damit kommt man vom Hauptbahnhof in die Innenstadt, vom Westen in den Süden und sie verknüpft die Gebiete, in denen die Menschen wohnen und in denen sie arbeiten.“ Mit anderen Worten: Die U1 ist die Lebensader der Stadt. Mit dem Projekt Quartier U1 wird die Linie nun auch zur Kommunikationsachse — zu einem Ort des Austauschs zwischen Bürger*innen und der Stadt und gleichzeitig zum Ausgangspunkt für die Umsetzung von Ideen. „Im Idealfall wird sich bei den Beteiligungen die Demografie widerspiegeln, die sich auch in der U-Bahn findet“, sagt Schnellbögl.

 

Quartier U1

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Das Quartier U1

Das Quartier U1

Kultur für alle

Das Quartier entsteht zwischen den Stationen Muggenhof im Westen und Frankenstrasse im Süden, dazwischen liegen zehn weitere Stationen. Um die Stationen wird ein Radius von acht Gehminuten gezogen, der daraus resultierende Raum wird zu besagtem Quartier U1. Es basiert somit nicht auf demographischen Statistiken oder aus künstlich gezogenen Grenzen, sondern aus einem belebten und gelebten Raum. Die Stationen decken verschieden durchmischte Nachbarschaften ab. Das ist Absicht, denn das Fundament des Projekts fußt auf der Idee der Soziokultur.

Maria Trunk ist freie Kulturakteurin und Mitarbeiterin beim Amt für Kultur und Freizeit in Nürnberg: „Soziokultur ist Kultur von allen für alle — Menschen sollen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer allgemeinen Situation Zugang zu Kultur haben, aber eben auch Kultur selbst gestalten können. Da steckt der aktive Bürger drin, der die Stadt selbst mit formt. Wenn du eine funktionierende soziokulturelle Stadt hast, hast du eine zusammenhaltende Stadt, die ihre großen und kleinen Herausforderungen gemeinsam meistern kann.“

Das Quartier U1

Das Quartier U1

Wer in Nürnberg öffentliche Verkehrsmittel benutzt, kommt um die U1 kaum herum. Ein wesentlicher Teil der Menschen, die aktiv am Leben teilnehmen, werden mit ihr als Kommunikationskanal erreicht — eine Reichweite, von der viele andere Medien nur träumen. Denn wie kann ich ihre Aufmerksamkeit besser gewinnen als mit einem Überraschungseffekt an Punkten des täglichen Lebens, an denen sie es nicht erwarten? Eben zum Beispiel auf dem Weg zur U-Bahn oder während Wartezeiten an den einzelnen Stationen. Kontaktpunkte werden Infoscreens, Plakate oder lokale Medien sein, aber auch kulturellen Veranstaltungen, Interventionen, ein eigenes Stadteilblatt und eben die Projekte, die aus den Ideen der Teilnehmenden entstehen und bis zum Sommer 2020 umgesetzt werden.

 

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Wie soll die Stadt zukünftig aussehen?

Ein Amt für Ideen

Wie wünschen sich Bürger*innen also ihre Stadt? Zwei der Kriterien für die Auswahl von Ideen, die umgesetzt werden sollen, sind erstens, dass die Idee einen Bezug zum Quartier haben und gemeinwohlorientiert sein sollte, und zweitens, dass sie darauf abzielt, die Menschen im Quartier zu inspirieren oder sogar zu befähigen, ihr öffentliches Lebensumfeld selbst zu verändern und zu gestalten.

Die Vorbereitungen für das Projekt laufen seit Anfang 2019, Anfang 2020 startete die Beteiligungsphase der Menschen im Quartier und am 6. Februar wurden 45.000€ für 19 Projektideen an Akteur*innen ausgeschüttet, die bis zum Sommer umgesetzt werden, darunter die Durchführung eines Upcycling-Festivals, die Initiierung eines Gemeinschaftsgartens, Zeitreisen durch Audio-Spaziergänge, die Plakataktion für mehr gegenseitige Rücksicht, die Nutzung von Fassadenelementen eines zum Abriss stehenden Kaufhauses zur Gestaltung öffentlicher Plätze, niederschwellige IT-Infrastruktur für Menschen in prekären Lebenssituationen, ausleihbares Gartenwerkzeug oder die Kühlung öffentlicher Plätze durch Begrünung. Zukünftige Anlaufstelle für das Projekt und für weitere Beteiligungen wird das Amt für Ideen sein, dass sich an einer der Stationen befinden wird. Der genaue Ort steht jedoch noch nicht fest.

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Wie soll die Stadt zukünftig aussehen?

Oft wissen Bürger*innen und Akteur*innen gar nicht um den Wert ihrer Ideen — und ihres Handelns. Das soll sich mit dem Quartier U1 ändern. Schnellbögl: „Um den Gestaltungswillen in Menschen zu wecken, muss ich die Freiheit der Einzelnen ermöglichen, Möglichkeiten vielleicht erstmal aufzeigen und die Schwelle zur Beteiligung niedrig halten.“ Die U-Bahn ist ein solcher niedrigschwelliger Raum — zugänglicher als ein Amt, das einschüchternd wirken kann, ist er allemal.

 


 

Was sind die Orte der Zukunft?

Überall im Bundesgebiet gibt es Orte, an denen sich Menschen mit Zukunftsgestaltung beschäftigen, neue Ideen testen und Lösungsansätze entwickeln. Um einen Überblick zu gewähren, wo solche Orte zu finden sind und eine Vorstellung zu vermitteln, bei welchen Themen die Kultur- und Kreativwirtschaft sinnvolle Impulse für die Zukunft liefern kann, schicken wir den freien Journalisten Björn Lüdtke genau dorthin – auf eine Reise durch Deutschland und die Zukunft. Hier können Sie seine Route komplett verfolgen. Die “Orte der Zukunft” sind Teil des Fiction Forums der Kultur- und Kreativwirtschaft.

Kennen Sie auch einen Ort der Zukunft? Dann schreiben Sie uns: presse@kreativ-bund.de

Credits

Text: Björn Lüdtke

Fotos: Urban Lab

Anstehende Veranstaltungen

  1. Schulterblick des Creative Labs #7 Kreislaufwirtschaft mit der Kreislaufwirtschaftsexpertin Eveline Lemke

    5. April, 16:00 - 21:00

Credits

Text: Björn Lüdtke

Fotos: Urban Lab

Wie trägt Kultur- und Kreativwirtschaft zu mehr Kreislaufwirtschaft bei?

Prinzipien aus der Natur abzuschauen hat schon viele Erfindungen hervorgebracht. Insbesondere Kreislaufsysteme der Natur sind Vorbilder für ein nachhaltigeres Leben. Die Umgestaltung unserer Wirtschaft zu einem kreislaufwirtschaftlichen System stellt jedoch eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar, die nur branchenübergreifend und ganzheitlich gelöst werden kann. Im Unterschied zum deutschen Begriff „Kreislaufwirtschaft“, der sich auf den Umgang mit Abfall fokussiert, ist der englische Begriff „Circular Economy“ (also „zirkuläres Wirtschaften“) bereits viel weiter gefasst und betrachtet das gesamte Produktsystem. Hier geht es um durchdachte Kreisläufe von Anfang an, die bereits beim Design von Produkten beginnt.

Innovative Ideen und praktische Ansätze für zirkuläres Wirtschaften finden sich schon seit Jahren in der Kultur- und Kreativwirtschaft, zum Beispiel in der Architektur, im Produkt- und Materialdesign, der Film- und Veranstaltungsindustrie sowie dem Modemarkt. Viele Beispiele werden Sie in diesem Magazinschwerpunkt kennenlernen können

In unserer Kurzreportage zur Kreislaufwirtschaft haben wir diesmal mit Architekt*innen Sandra Düsterhus (Point.Architektur) und Martin Haas (haascookzemmrich) über die Ansätze bei ihren Projekten in der Außen- und Innenarchitektur gesprochen und was der Fokus auf Kreislaufwirtschaft auch für die Gestaltung bedeutet.