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Getrieben von der sozialen Innovation

Als Kommunikationsmanagerin des globalen Ashoka-Netzwerkes für Sozialunternehmer*innen hat Jana Gioia Baurmann viele Menschen kennengelernt, deren unternehmerisches Handeln darauf ausgerichtet ist, gesellschaftliche Probleme nicht nur erkennen, sondern auch beheben zu wollen. Im vierten Teil der Beitragsreihe zum Begriff Innovation erzählt sie anhand des Beispiels Un-Label, was Sozialunternehmer*innen motiviert und wie soziale Innovationen vorangetrieben werden können.

Auf YouTube, wo bekanntlich sehr, sehr viele Videoclips zu finden sind, gibt es eines, das Milton Diamond zeigt. Diamond ist Professor an der University of Hawaii School of Medicine und das kurze Video (es ist nicht mal zwei Minuten lang) ist ein familiärer Austausch zwischen Diamond und seiner Tochter Irene. Was genau ihr Vater denn mit dem Satz »Nature loves variety, but unfortunately society hates it« meine, fragt sie. Also dass die Natur den Variantenreichtum liebe, die Gesellschaft leider überhaupt nicht. »Ach, weißt du, wir sind alle unterschiedlich groß, wiegen mal mehr, mal weniger, wir haben verschiedene Frisuren und andere Augenfarben … das ist Natur.« So wie es keine zwei gleichen Bäume gibt und keine identischen Schneeflocken, so ist auch jeder Mensch anders, oder: einzigartig. Aktuell kennt die Welt rund 7,77 Milliarden Varianten des Lebens.

In vielen Bereichen, die unser Leben ausmachen – beispielsweise Kultur – ist dieser Variantenreichtum kaum bis nicht zu sehen. Die Ballettvorführung im Großen Haus? Es tanzen athletische weiße Menschen. Das Konzert im Kammermusiksaal? Auf der Bühne sitzen weiße Menschen in schwarzen Uniformen. Das bislang teuerste Gemälde der Welt, Salvator Mundi von Leonardo da Vinci, zeigt einen weißen Mann mit schulterlangen, braunen Haaren: den Erlöser der Welt, Jesus. »Wir sollten weg von dieser statischen Hochkultur: Nicht nur die Philharmonie oder ein großes Theater sind Kunst – Kultur kann überall stattfinden und sollte von jedem erlebt und umgesetzt werden können. Je diverser ein Kulturprojekt am Ende ist, desto interessanter ist es. Diversität auf allen Ebenen bereichert«, davon ist Lisette Reuter überzeugt – so sehr, dass sie 2015 Un-Label gründete.

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Der Kulturbereich sei der »beste Nährboden, um zu zeigen, dass Inklusion möglich ist«, sagt Reuter. Dass kulturelle Teilhabe ein Menschenrecht ist, ist im Übrigen nicht nur Reuters Meinung, sondern ein Übereinkommen, auf das sich die Vereinten Nationen im Rahmen der UN-Behindertenrechtskonvention geeinigt haben.

Seit 2015 bringt Un-Label Kulturschaffende aus aller Welt – mit und ohne Behinderung – zusammen. Es entstehen Performances wie zuletzt (We don’t) [kehr], ein Stück, das sich dem Thema Care-Arbeit widmet: Was bedeutet Hilfe in unserer Gesellschaft? Welche Bilder von Care-Arbeit haben wir verinnerlicht? Wo hört Hilfe auf – und wo fängt Gewalt an? In (We don’t) [kehr], so wie in allen Un-Label-Produktionen, werden Mittel der Barrierefreiheit wie etwa teilintegrierte Gebärdensprache als künstlerisch-ästhetische Elemente eingesetzt; unabhängig von der parallellaufenden Audiodeskription und (falls erforderlich) einer Übersetzung in Gebärdensprache.

Mit Un-Label und den Performances versucht Reuter, bestimmte und als selbstverständlich angesehene Meinungen der Gesellschaft zu stören, wie etwa die Auffassung, dass eine Behinderung ein persönliches Defizit oder gar ein Mangel sei. Mit ihren Projekten ermöglicht sie Begegnungen, die es sonst nicht gäbe. Sie nutzt die Kulturwirtschaft als einen mächtigen Hebel, um die öffentliche Wahrnehmung zu verändern und etablierte Normen und Standards in Bezug auf Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft zu verschieben. Denn es ist in den wenigsten Fällen die Behinderung einer Person, sondern die Barrieren der Gesellschaft, die die Person an gleichberechtigter Teilhabe in unserer Gesellschaft behindert. Un-Label ist inklusiv – und innovativ.

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Im vergangenen Jahr wurde Lisette Reuter als Sozialunternehmerin in das weltweite Ashoka-Netzwerk aufgenommen. Die Unternehmer*innen in diesem Netzwerk eint, dass sie ähnlich ticken. »Dass die Person wirklich getrieben ist von der sozialen Innovation, das heißt, das Ziel hat, etwas zu verändern – und dafür alle möglichen Wege findet. Dass es mehr ist als nur ein Job oder ein Karriereweg«, sagt beispielsweise Gregor Hackmack, Mitgründer von abgeordnetenwatch.de und Vorstand von Change.org. »Ich kenne niemanden, der sagt: Ich will Sozialunternehmer*in werden! Eher schon: Mir ist das eine Thema wichtig und deswegen suche ich nach Lösungen, dieses Thema – immer ja ein Problem – anzugehen.« Die Europäische Kommission definiert soziale Innovation als »die Entwicklung neuer Ideen, Dienste und Modelle zur besseren Bewältigung gesellschaftlicher Probleme«.

Wir sollten weg von dieser statischen Hochkultur: Nicht nur die Philharmonie oder ein großes Theater sind Kunst – Kultur kann überall stattfinden und sollte von jedem erlebt und umgesetzt werden können. Je diverser ein Kulturprojekt am Ende ist, desto interessanter ist es. Diversität auf allen Ebenen bereichert.

Lisette Reuter

Dass Innovationen wie Un-Label entstehen, hängt also nicht mit Kapitalismus, Markt und (primär) Wachstum zusammen, sondern liegt an einem unzureichenden Status quo. Bevor Lisette Reuter Un-Label gründete, managte sie Kulturprojekte, auch auf europäischer Ebene. »Dabei merkte ich, dass viele der Projekte auf EU-Ebene nicht zugänglich sind für Künstler*innen mit Behinderung«, erzählt sie rückblickend. Die Frage »Warum ist das so – und nicht anders?« arbeitet in den Köpfen von Sozialunternehmer*innen, sie ist wie ein zündender Funke: Reuter kümmerte sich sieben Jahre lang um Kulturprojekte, bevor sie den Job kündigte und sich mit ihrer Idee selbstständig machte.

Wie soziale Innovationen vorangetrieben werden können

Un-Label möchte Kultur verändern, andere Sozialunternehmer*innen gehen Themen wie Gesundheit, Bildung oder Ernährung an. Geht es um Veränderung, ist stets auch die Frage: Wer soll sie anstoßen? Die Bürger*innen selbst, mutige Unternehmer*innen wie Lisette Reuter oder ist doch das System gefragt, also die Politik? Lisette Reuter weiß, dass sie politisch beeinflussen muss, um zu verändern: »Mit den Produktionen will ich zeigen, dass Inklusion funktioniert – nicht nur um der Kunst Willen, sondern auch aus einer politischen Perspektive heraus«, sagt sie. »Unsere Produktionen sind deswegen sozusagen auch Mittel zum Zweck.«

Auch Ashoka ist bewusst, dass Politik der entscheidende Hebel ist. 2017 gründete die Organisation daher das Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland e.V. (SEND) mit, das inzwischen mehr als 700 Mitglieder hat. Von Anfang an lag ein Schwerpunkt von SEND darauf, politischen Akteur*innen deutlich zu machen, dass innovative und wirksame Lösungen bessere Rahmenbedingungen brauchen, um sich entwickeln und wachsen zu können. Ein Hilfsmittel dabei ist der Deutsche Social Entrepreneurship Monitor (DSEM), der seit 2018 jährlich erscheint. Damals nahmen 117 Sozialunternehmer*innen an der Umfrage teil, im zuletzt erschienenen, dritten Monitor waren es 428, deren Antworten verwertet werden konnten.

DSEM hat nur einen Buchstaben mehr als DSM, das ist die Abkürzung für den Deutschen Startup Monitor, der seit 2012 erscheint. Entstanden, um Arbeit und Bedürfnisse von Startups in Deutschland darzulegen, nehmen Nachhaltigkeit und soziale Innovationen inzwischen auch dort eine immer größere Rolle ein. Das dritte Jahr in Folge ordnen mehr DSM-Startups ihre Produkte und Dienstleistungen der Green Economy beziehungsweise dem Bereich Sozialunternehmertum zu. Konkret: 43 Prozent der befragten Startups sehen sich als Sozialunternehmer*innen.

Dass die Person wirklich getrieben ist von der sozialen Innovation, das heißt, das Ziel hat, etwas zu verändern – und dafür alle möglichen Wege findet. Dass es mehr ist als nur ein Job oder ein Karriereweg.

Gregor Hackmack

Mit dem DSEM will SEND einerseits Potenziale, Bedürfnisse und Herausforderungen von Sozialunternehmer*innen besser verstehen, andererseits sind die Zahlen so aufbereitet, dass sie von Politik und Wirtschaft verstanden werden können. In jeder Ausgabe des Monitors sind den Ergebnissen konkrete Handlungsempfehlungen an die Politik vorangestellt. Für dieses Jahr lauten sie:

  • Klare Zuständigkeiten. Derzeit werden soziale Innovationen als Querschnittsthema in verschiedenen Politikressorts behandelt. Eine nationale Strategie sollte erarbeitet werden.
  • Eine bessere Finanzierung. Bereits 2019 hat SEND gemeinsam mit Menschen wie dem Investor Antonis Schwarz vorgeschlagen, einen Social Impact Fonds über nachrichtenlose Vermögenswerte (also Bankguthaben und Wertpapiere, die keinen Kund*innen mehr zugeordnet werden können) aufzubauen.
  • Innovationszentren. Während Innovations- und Gründer*innenzentren im gewerblichen Kontext staatlich unterstützt werden, fehlt es an einer entsprechenden Infrastruktur für Sozialunternehmer*innen und soziale Innovationen.

Inzwischen sei der DSEM »das mit Abstand wichtigste Kommunikationstool geworden«, sagt Projektleiter Michael Wunsch. »Entscheidungsträger*innen bewegen sich nur, wenn sie sehen, wie die Datenlage ist. Sie müssen einordnen können, was da passiert.« 80 Prozent der befragten Sozialunternehmer*innen sind mit der Unterstützung von Sozialunternehmertum in Deutschland durch die Politik unzufrieden. Auf die Frage, was die größten Hürden seien, gab jede*r dritte Sozialunternehmer*in eine schwer nachvollziehbare Vergabe von öffentlichen Finanzmitteln sowie zu wenig öffentliche Unterstützungssysteme an.

Auch Lisette Reuter hat Daten von Anfang an mitgedacht: Studierende schreiben Bachelor- oder Masterarbeiten über Un-Label, Wissenschaftler*innen werden als Expert*innen involviert, Daten werden erhoben, Projekte evaluiert. »Wir brauchen leider nach wie vor solche wissenschaftlichen Belege, die wir Politiker*innen vorlegen können«, sagt sie. »Als Grundlage, dass sich dann auch etwas im größeren System ändert.«

Dass Politik verändern kann, ist eine Binse. Dennoch ein Beispiel: In Großbritannien gab es in den 1980er-Jahren die Disability Rights-Bewegung, aus der ein neues Diversitätsmanifest zur Förderung von Kultur entstand. Seitdem sind alle britischen Kulturakteur*innen dazu aufgerufen, sich barrierefrei und inklusiv auszurichten. Wer als Kulturakteur*in beim Arts Council (dem Nationalen Rat für die Künste) einen Antrag stellt, muss auf das Thema Barrierefreiheit eingehen – und kann Extrakosten für Barrierefreiheit beantragen, unabhängig von den Produktionskosten. Etwas, für das Reuter auf deutscher Ebene noch immer kämpft.

2019 wurde Reuter mit dem Förderpreis InTakt der miriam-stiftung ausgezeichnet. »Sie lieben es, Dinge zu tun, die Sie noch nie getan haben«, sagte die Laudatorin über Lisette Reuter. »Und obendrein lieben Sie es, auch andere dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie noch nie getan haben. Ein gewisses Risiko ist mit dieser Lust am Nie-Getanen schon verbunden: Man kann scheitern oder gewinnen.« Bei den vielen Herausforderungen, mit denen wir als Gesellschaft konfrontiert sind, lohnt es nicht, dieses Risiko einzugehen. Mehr noch: Wir müssen es eingehen, um als Menschheit nicht zu scheitern.

 

 

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Innovation, ein zentraler Begriff, an dem kein Vorbeikommen ist. In unserer fortlaufenden Reihe wagen Expert*innen aus Wissenschaft und Wirtschaft eine Einschätzung zum. Hier finden Sie den Auftaktartikel von Prof. Dr. Martin Zierold, Leiter des Instituts für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater Hamburg „Innovation braucht Innovation“.

Artikel 2: „Auf der Suche nach Nachhaltigkeit“ von Annett Baumast, Gründerin und Geschäftsführerin von baumast. kultur & nachhaltigkeit
Artikel 3:Keine Innovationsoffensive für die Innenstadt“ von Martina Löw, Professorin für Soziologie an der TU Darmstadt

Credits

Text: Jana Gioia Baurmann

Fotos: Maria Selmansberger (Illustration)

Anstehende Veranstaltungen

Es gibt derzeit keine bevorstehenden Veranstaltungen.

Credits

Text: Jana Gioia Baurmann

Fotos: Maria Selmansberger (Illustration)

Wie trägt Kultur- und Kreativwirtschaft zu mehr Kreislaufwirtschaft bei?

Prinzipien aus der Natur abzuschauen hat schon viele Erfindungen hervorgebracht. Insbesondere Kreislaufsysteme der Natur sind Vorbilder für ein nachhaltigeres Leben. Die Umgestaltung unserer Wirtschaft zu einem kreislaufwirtschaftlichen System stellt jedoch eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar, die nur branchenübergreifend und ganzheitlich gelöst werden kann. Im Unterschied zum deutschen Begriff „Kreislaufwirtschaft“, der sich auf den Umgang mit Abfall fokussiert, ist der englische Begriff „Circular Economy“ (also „zirkuläres Wirtschaften“) bereits viel weiter gefasst und betrachtet das gesamte Produktsystem. Hier geht es um durchdachte Kreisläufe von Anfang an, die bereits beim Design von Produkten beginnt.

Innovative Ideen und praktische Ansätze für zirkuläres Wirtschaften finden sich schon seit Jahren in der Kultur- und Kreativwirtschaft, zum Beispiel in der Architektur, im Produkt- und Materialdesign, der Film- und Veranstaltungsindustrie sowie dem Modemarkt. Viele Beispiele werden Sie in diesem Magazinschwerpunkt kennenlernen können

In unserer Kurzreportage zur Kreislaufwirtschaft haben wir diesmal mit Architekt*innen Sandra Düsterhus (Point.Architektur) und Martin Haas (haascookzemmrich) über die Ansätze bei ihren Projekten in der Außen- und Innenarchitektur gesprochen und was der Fokus auf Kreislaufwirtschaft auch für die Gestaltung bedeutet.