Es ist ein seltsames Paradox in Zeiten des Wandels: Alle reden von Transformation – aber mit den vertrauten Begriffen der Vergangenheit. Wie kann das sein? Wenn die Veränderungen, die allenthalben behauptet werden, wirklich so tiefgreifend sind: Wieso begegnet uns dann immer wieder ein so vertrautes Repertoire an Begriffen wie Transformation, Kreativität, Interdisziplinarität und Innovation? Während schon spürbar ist, dass wir uns mitten in einem gesellschaftlichen Prozess tiefgreifender, vielfach noch völlig ergebnisoffener Veränderungen befinden, fehlt die Sprache, um diese Veränderungen angemessen zu beschreiben. Der Philosoph Vilém Flusser hat dieses Phänomen bereits in seinem 1978 erschienen Text „Die kodifizierte Welt“ beschrieben, der sich wie ein Kommentar zum heutigen Schlagwort der „digitalen Transformation“ liest, auch wenn er noch von „Techno-Codes“ spricht: Es hat, so Flusser, „Jahrhunderte nach der Erfindung der Schrift erfordert, bevor die Schreiber lernten, daß Schreiben erzählen bedeutet. (…) Es wird ebensolange dauern, bevor wir die Virtualitäten von Techno-Codes erlernen.“
Innovation braucht Innovation! Warum wir den Begriff neu denken sollten.
Der Gedanke, dass sich womöglich erst in einigen Jahrhunderten verstehen lässt, welche Umwälzungen die digitalen Technologien für unser Leben, Erleben und Zusammenleben bedeuten, ist einschüchternd. Sind also die Philosoph*innen, Soziolog*innen und andere Weltendeuter*innen auf Jahrhunderte zum Schweigen verdammt? Nun, mit einer Ära der Stille ist eher nicht zu rechnen. Wohl aber scheint es angebracht, das Repertoire an Begriffen, Modellen und Methoden zu hinterfragen, mit denen wir versuchen, uns die Welt zu erschließen und Sinn zu stiften. Besonders dringlich ist dies bei dem Begriff der „Innovation“, der auf vielfältige Weise schal geworden ist. Ähnlich wie auch die vom Soziologen Andreas Reckwitz so trefflich beschriebene gesellschaftliche Karriere des Konzepts der „Kreativität“ ist die Rede von „Innovation“ sowohl allgegenwärtig als auch notorisch unscharf. Er droht zu einer völlig beliebigen Worthülse zu werden, die gleichermaßen inflationär wie austauschbar verwendet wird. Darüber hinaus wird „Innovation“ nach wie vor oft dominant technisch verstanden – obgleich die wohl wesentlichen Herausforderungen der Gegenwart nicht zuletzt soziale und kulturelle Dimensionen haben, die sich nicht rein technisch lösen lassen.
(Kein) Abschied von dem Begriff
Vor diesem Hintergrund gibt es nun zwei plausible Optionen: 1. Wir könnten den Begriff aus den beschriebenen Gründen ad acta legen – allerdings ohne dass wir schon ein alternatives Konzept zur Hand hätten, das seine argumentative Funktion übernehmen könnte. 2. Wir könnten den Begriff transformieren. Gerade für die Kultur- und Kreativwirtschaft besteht der dringende Bedarf, ihre Funktion als professionelle Problemlöserin für soziale und kulturelle Herausforderungen auf einen Begriff bringen zu können – sei es gegenüber der Politik oder auch im Austausch etwa mit Kund*innen. Hier könnte der Begriff der „Innovation“ weiter eine wichtige Rolle spielen, wenn es gelingt, ein vielfältigeres, komplexeres Verständnis von „Innovation“ zu etablieren.
Der Begriff der „Innovation“ ist selbst innovationsbedürftig. Dies jedenfalls ist die Ausgangsthese, der wir uns in einer Artikelserie widmen wollen. Das Ziel der Serie ist es, den Begriff aus Perspektiven zu beleuchten, die aus unserer Sicht oft zu kurz kommen:
- Was für ein Verständnis von „Innovation“ wäre heute notwendig? Wie lässt sich der Begriff sinnvoll füllen?
- Wie könnten Wege zu zeitgemäßen – sozialen, nachhaltigen,… – Innovationen aussehen? Wie könnten sie wahrscheinlicher werden? Wer ist gefragt?
Mit diesen Fragen werden sich in den nächsten Wochen eine Reihe von Beiträgen befassen, für die wir Autor*innen eingeladen haben, die teils ausgewiesene Expert*innen der Innovationsforschung sind, sich mit anderen begrifflichen Traditionen beschäftigen oder ganz praxisbasiert einen frischen Blick auf den Diskurs werfen können. Jeder Beitrag hat dabei einen konkreten und aus der Expertise der Autor*innen abgeleiteten Fokus, beispielsweise auf die Zusammenhänge von Nachhaltigkeit und Innovation, Bildung und Innovation oder Urbanität und Innovation.
Keine Erfindung, kein Produkt, kein Geschäftsmodell ist „objektiv“ innovativ. Vielmehr ist „Innovation“ immer ein Label, eine Wertung aus einer spezifischen Perspektive.
In diesem die Serie eröffnenden Text sollen lediglich erste grundlegende Überlegungen angestellt werden, die den Bedarf für Innovationen des Innovationsbegriffs plausibel machen. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass es „Innovationen“ gar nicht gibt, jedenfalls nicht in einem objektiven Sinn: Keine Erfindung, kein Produkt, kein Geschäftsmodell ist „objektiv“ innovativ. Vielmehr ist „Innovation“ immer ein Label, eine Wertung aus einer spezifischen Perspektive. Wann wir bereit sind, etwas als „Innovation“ zu bewerten, hängt also von Kriterien ab, von unserer Definition des Begriffs. Der oft als Vordenker des Konzepts genannte Ökonom Joseph Alois Schumpeter hat „Innovation“ als „Durchsetzung neuer Kombinationen“ verstanden. In diesem Sinne ist es also die Kombination von Neuheit und deren gesellschaftliche Durchsetzung, die Innovationen ausmacht. Selbst diese vermeintlich so nüchtern-sachliche Definition hat es in sich: Wann genau ist ein Phänomen „neu“? Und ab welcher Schwelle sind wir bereit von „Durchsetzung“ zu sprechen, also zu konstatieren, dass sich ein Phänomen etabliert hat?
Das Neue als "Stufe"
Für den Aspekt der „Neuheit“, der dem Begriff der Innovation ja auch etymologisch zugrunde liegt, sind mindestens zwei Dimensionen relevant: die zeitliche und die räumliche. Ein Phänomen kann in einer Region als „neu“ erscheinen, während sie in anderen längst vertraut ist: der „Flat White“ war in Londoner Coffee Shops längst ein vertrautes Angebot, als er in Berlin gerade als „neu“ interessant erschien. Was die zeitliche Dimension betrifft, lässt sich mit dem bereits erwähnten Andreas Reckwitz die Frage stellen, welche Vorstellungen des Neuen wir mit Innovation verbinden möchten. Reckwitz unterscheidet grundlegend drei „Regime des Neuen“, mit denen ganz unterschiedliche Vorstellungen und normative Erwartungen einhergehen: das Neue als Stufe, das Neue als Steigerung und das Neue als Reiz. Mit dem Bild des Neuen als „Stufe“ verbindet sich nach Reckwitz eine politisch-moralische Vorstellung von Fortschritt: Neues in diesem Sinn wird daran gemessen, ob es dazu beiträgt, eine neue, höhere Stufe des Fortschritts zu erreichen, der wiederum als endlich verstanden wird. Politische Revolutionen, die auf einen definierten moralisch absolut positiv besetzten Zielzustand abzielen, operieren in diesem Modus. Das Neue als „Steigerung“ hält an der normativen Erwartung von Fortschritt im Sinne einer Verbesserung fest, die aber als prinzipiell unendlich gedacht: der Prozess wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns wird in diesem Regime verortet, nach dem permanent neues Wissen produziert wird, das einerseits für sich genommen als „Verbesserung“ verstanden wird, wobei zugleich der Prozess der Produktion neuen Wissens als nie endgültig abgeschlossen verstanden wird. Im Regime des Neuen als Reiz schließlich besteht die Idee einer unendlichen Folge von Neuem fort, jedoch wird der normative Fortschritts-Anspruch im Sinne einer Verbesserung aufgegeben. Das Neue als „Reiz“ ist nach Reckwitz nicht mehr an Verbesserung gekoppelt, sondern an das Versprechen eines ästhetisch-affektiven Reizes, der sich aus der Differenz zum Vorherigen ergibt. „Das Neue“ kann dann auch etwas Altes sein, wenn es nur hinreichend lange vergessen war und in seiner Wiederkehr als überraschend, originell, interessant, schlicht hinreichend anders als das Vorherige erscheint – die diversen Retrowellen lassen grüßen.
Lässt sich unser Verständnis von Innovation selbst so innovieren, dass wir nur noch dann von Innovation sprechen, wenn ein Beitrag zur Lösung der fundamentalen Herausforderungen der Gegenwart geleistet wird?
Diese Überlegungen Reckwitz‘ sind erhellend auch für den Innovationsdiskurs: Reckwitz verortet selbst moderne Vorstellungen von naturwissenschaftlich-technischen Entwicklungen und auch ausdrücklich das Konzept „ökonomische[r] Innovationen“ im Regime des Neuen als Steigerung. In diesem Zusammenhang erscheint die Möglichkeit von Innovation als unendlich, zugleich werden Innovationen normativ an das Ideal der „Verbesserung“ gekoppelt. Wenn wir vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zu Schumpeters Satz der „Durchsetzung neuer Kombinationen“ zurückkehren, dann ergibt sich womöglich das Potenzial für neue(!) Blicke auf den Innovationsbegriff. Diese eröffnen sich genau dann, wenn wir nach dem normativen Gehalt des Begriffs der „Neuheit“ im Sinne eines Fortschritts, einer Verbesserung fragen: Auf der Basis welcher Kriterien bewerten wir diese „Verbesserung“? Hier scheint es angesichts der dramatischen Herausforderungen der Gegenwart nicht länger plausibel, die Neuheits-Erwartungen lediglich auf technischen oder ökonomischen Fortschritt zu beschränken. Sollte, was Innovation sein will und mithin das Versprechen einer normativen Verbesserung gibt, nicht (mindestens: auch) an fundamentaleren Werten gemessen werden als lediglich einer ökonomischen Steigerungslogik wie einer höheren Effizienz eines „innovativen“ Produktionsverfahrens oder einer größeren Rendite eines „innovativen“ Geschäftsmodells? Lässt sich unser Verständnis von Innovation selbst so innovieren, dass wir nur noch dann von Innovation sprechen, wenn ein Beitrag zur Lösung der fundamentalen Herausforderungen der Gegenwart geleistet wird?
Black Box Durchsetzung
Neben diesen Reflexionen über das Kriterium der „Neuheit“ fordert uns Schumpeter zudem auf, über die Frage der „Durchsetzung“ von potenziellen Innovationen nachzudenken: Welche Schwelle legen wir hier an – ab wann lässt sich überhaupt in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft von „Durchsetzung“ sprechen? Und welche Mechanismen braucht es, damit potenzielle Innovationen im oben skizzierten, normativen Sinn, überhaupt durchsetzungsfähig sein können – konkret gesprochen: Wie können wir es gesellschaftlich wahrscheinlicher machen, dass mehr „Neues“ entsteht, das einen Beitrag zum Gemeinwohl leistet und sich dieses „Neue“ dann auch etablieren kann? Und von wo wären solche Innovationen zu erwarten? (Eine naheliegende Hypothese im Kontext dieses Magazins ist es, dass der Kultur- und Kreativwirtschaft hier eine besondere Rolle zukommt.)
Diese Fragen umreißen einige mögliche Ausgangspunkte für innovative Impulse an den Begriff der Innovation. Die in den nächsten Wochen anschließenden Beiträge werden, wie oben skizziert, noch konkreter und spezifischer für einzelne gesellschaftliche Handlungsfelder die Potenziale für Innovationen des Innovationssbegriffs erkunden. Denn wenn wir schon nur die vertrauten Begriffe der Vergangenheit haben, um die Transformationen und Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu beschreiben – dann sollten wir wenigstens innovativ mit ihnen umgehen.
___
Der Artikel von Martin Zierold war spannend für Sie? Noch drei weitere Texte der Beitragsreihe warten auf Sie: Annett Baumast, Gründerin und Geschäftsführerin von baumast. kultur & nachhaltigkeit, widmet sich dem allgegenwärtigen Thema Nachhaltigkeit. Jetzt lesen: Auf der Suche nach der innovativen Nachhaltigkeit.
Um Innenstädte und Innovation geht es im Artikel von Martina Löw, Professorin für Soziologie an der TU Darmstadt, (hier lang). ‚Getrieben von der sozialen Innovation‚ heißt es bei Jana Gioia Baurmann, Kommunikationsmanagerin Ashoka-Netzwerk. Im vierten Teil der Beitragsreihe zum Begriff Innovation erzählt sie anhand des Beispiels Un-Label, was Sozialunternehmer*innen motiviert und wie soziale Innovationen vorangetrieben werden können.
Credits
Text: Prof. Dr. Martin Zierold
Fotos: Unsplash